Die schöne Rächerin
überfällig, dass sie einstürzen, so wie ich das sehe!«
Collis konnte sich gar nicht erinnern, wann Rose das letzte Mal einen solchen Dialekt gesprochen hatte. Sie musste vor Angst wirklich außer sich sein.
Er hätte über ihr Unbehagen erfreut sein müssen, schließlich erlebte er sie zum ersten Mal ohne diesen Anflug von Hochmut. Aber ihre kindlich klammernden Finger ließen ihn ihre Angst bedauern, und er wollte sie nur noch trösten.
Für Rose war es, als hätte es die letzten Monate, die Sicherheit und die Schule, nie gegeben. Die Ausbildung, das Training, sogar der Schmerz in der Schulter, wo einer von Louis Lakaien sie mit der Faust getroffen hatte - alles verschwand, wurde von den Tonnen aus Erdreich erstickt, die über ihr lagen.
Unter der Erde zu sein, hieß begraben zu sein, und begraben zu sein hieß Tod. Alles Erlernte, all die rationalen Überlegungen, alles Wissen war mit einem Streich fortgewischt und wich dem alten, tiefen Aberglauben.
Sie würde nie mehr die Sonne sehen. Sie würde hier unten sterben. Sie konnte den Tod förmlich in der Luft schmecken. Ihr Herz pochte wie das eines verängstigten Kaninchens, und ihre Augen waren so weit aufgerissen, dass es wehtat. Es fühlte sich an, als sei die moderige Luft zu dick zum Atmen und als seien ihre Lungen nicht fähig sie einzusaugen.
Collis und der Prinz verschwammen vor ihren Augen, die Laterne wurde trüb. Sie hörte sie reden, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Sie bekam keine Luft -
Genau in dem Augenblick, als sie vollständig das Bewusstsein verlieren wollte, holte der scharfe Knall einer Ohrfeige sie zurück. Sie blinzelte und sah zwei besorgte Gesichter, die sie im Schein einer Laterne anstarrten. Ihre Wange brannte. Sie rieb sie und sah Collis finster an, obwohl sie ihm dafür dankbar war, dass er sie zurückgeholt hatte.
Doch Collis hob die Hand und warf einen Seitenblick in Richtung des Prinzen. George hielt mit einer Hand die Laterne hoch, aber Rose konnte sehen, dass er die andere Hand schüttelte, als schmerze ihn die Handfläche.
Sie war gezwungen, sich die scharfe Erwiderung zu verkneifen - denn wer war sie, gegen eine königliche Ohrfeige zu protestieren? - und knickste stattdessen nur. »Danke, Eure Hoheit.« Doch ein perverses kleines Teufelchen ließ sie noch ein paar Worte hinzufügen. »Falls ich die Gefälligkeit je erwidern kann, wird es mir ein Vergnügen sein, Eure Hoheit.«
12
Collis war froh, dass Rose ihren trockenen Humor wiedergefunden hatte. Nicht dass sie ein Spaßvogel gewesen wäre. Er hatte sie in all der Zeit nur einmal lachen sehen, und ihn hatte sie nie angelacht. Warum? Die anderen Studenten schafften es doch auch, ihr ein kleines Lächeln zu entlocken, und er hatte gehört, dass selbst Phillipa Cunnington Rose hie und da zum Lachen brachte.
Unvorstellbar. Eine lauthals lachende Rose. Er sehnte sich danach, es zu hören, und wenn auch nur, um seine masochistische Neugier zu befriedigen. Bah! Er glaubte ohnehin nicht daran, Rose Lacey war zum Lachen nicht menschlich genug.
Er fragte sich, ob ihr Lachen denselben heiseren Unterton hatte, der in ihrer Stimme lag, wenn sie sich über ihn ärgerte. Er mochte diesen Unterton, mochte es, wie er seine Instinkte ansprach. Dieser tiefe, wilde Ton ließ ihn an eine Jagd denken, was ihn wiederum an die Gefangennahme erinnerte …
Und die … ah … das Finale …
Jetzt ist dazu nicht die Zeit, alter Junge. Jetzt ist es an der Zeit, sich über deinen Hals Gedanken zu machen - und über den des Prinzen - nicht über andere Teile der menschlichen Anatomie.
George hatte sie in einen der älteren Abschnitte des Tunnels geführt. Die hunderte Jahre alten Steine der gewölbten Wände und der Decke waren ohne Mörtel aneinandergefügt. Collis versuchte sich einzureden, dass das ein gutes Zeichen war - Mauern, die so gebaut waren, hielten dem Druck der Stadt über ihnen eher stand - aber die ständig abnehmende Höhe des Tunnels ließ ihn das Gewicht eines jeden Pflastersteins und eines jeden Ladens spüren, die sich über seinem Kopf befanden.
Das monotone Platschen ihrer Schritte war das Einzige, was sie hören konnten, und das kurze Stück Tunnel vor ihnen war für so lange Zeit das Einzige, was sie sehen konnten, dass Collis langsam das Gefühl bekam, sich überhaupt nicht von der Stelle zu bewegen, keinen Schritt voranzukommen. Wären sie gegen die Flut angewatet, hätte er es tatsächlich geglaubt, doch das Wasser drückte beständig von hinten an ihre
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