Die schoenen Hyaenen
behandelte. Was mußten diese armen, grotesk verunstalteten Patienten empfinden, wenn sie erfuhren, daß sie, ein ganz normaler Durchschnittsmensch, sich freiwillig solchen Operationen unterzog?
Früher hatte Mary Jane in Streßsituationen das Essen nur so in sich hineingeschaufelt. Diese Tage lagen hinter ihr.
Noch immer sah Mary Jane nicht gern in einen Spiegel. Dank Brewsters Skalpell besaß sie nun edel geformte Wangenknochen, ein zartes Kinn und eine keineswegs unnatürlich gestraffte Gesichtshaut. Nur die Nase hing noch immer grotesk in ihrem Gesicht. Sie wirkte sogar hässlicher als zuvor. Dr. Moore hatte darauf bestanden, daß die Rhinoplastik zum Schluß vorgenommen werden mußte, nachdem die anderen Operationen ausgeheilt waren. Und Mary Jane vertraute ihm. Sie sah gut aus in ihren enganliegenden Jeans, doch nicht attraktiv. Mitunter zweifelte sie daran, daß sich das je ändern würde. Zumindest erwartete sie, daß ihr die Tätigkeit in der Klinik wieder etwas Mut machte.
Das geschah tatsächlich. Schon nach einer Woche. Brewster Moore hatte Mary Jane zunächst gebeten, als Nachtschwester auszuhelfen. Nachts traten kaum jemals Probleme auf, die eine für dieses Gebiet geschulte Kraft erforderten. Mary Jane mußte Schmerzmittel verabreichen oder die Kinder trösten, denen Angst oder Unruhe den Schlaf raubten. Brewster hatte erklärt, daß den Kindern am besten geholfen wurde, indem man mit ihnen redete und ihnen Aufmerksamkeit schenkte. »Man muß sie auch ansehen. Die Menschen wenden sich im allgemeinen ab, sobald sie einer Entstellung gewahr werden. Sehen Sie die Kinder an! Nicht anstarren. Es ist für sie wie ein Geschenk, wenn man sie ansieht. «
Das verstand Mary Jane gut. Es war ein Geschenk, Anerkennung im Blick des Mitmenschen zu entdecken. Ihr neugestalteter schlanker Körper hatte ihr schon Pfiffe eingetragen. Wohlgemerkt nur von hinten. Bauarbeiter. Doch schon das hatte Mary Jane gefreut. Sie kannte das ja nicht. In sechsunddreißig Jahren war sie nie Ziel eines Pfiffes gewesen. Darum nahm sie sich vor, die Kinder anzusehen und ihnen das zu geben, was sie brauchten.
Auf der Station befanden sich einige Dutzend Patienten. Kinder wie alle anderen, abgesehen von den grauenvollen Entstellungen in ihren Gesichtern: unschuldig und verletzbar, neugierig und quicklebendig. Natürlich fühlte Mary Jane sich zu einigen mehr hingezogen als zu anderen. Sally, deren Schädeldecke sich zu früh geschlossen hatte, wodurch Kopf und Kiefer gräßlich deformiert wurden: Jennifer, ein dreijähriges farbiges Mädchen, deren Kurzköpfigkeit ihre Augen grotesk hervortreten ließ. Doch von der ersten Nacht an war es Raoul, der Mary Janes Herz gewann. Seit seiner Geburt vor zwölf Jahren hatte Raoul nur mit seinen Augen reden können. Er wurde in Südamerika ohne Zunge und Unterkiefer geboren. Er konnte nicht gestillt werden, weil sein Mund die Saugbewegung nicht schaffte. Also wurde Raoul ausgesetzt und landete bei Brewster Moore. Nun versuchte er mit einem neuen Mund und einer neuen Zunge eine fremde Sprache zu erlernen. Raoul brachte Mary Jane das Lachen wieder bei.
Er war ein lebhafter Junge. Sechs große Operationen an Mund und Zunge hatte er hinter sich, eine siebte stand bevor. Seine ersten drei Lebensjahre hatte er in einem Krankenhaus verbracht, die nächsten beiden in einem Waisenhaus. Weder das eine noch das andere hatte seinen starken Lebenswillen oder seine Liebesfähigkeit beeinträchtigt. Viel vermochte Raoul nicht zu sagen. Doch er konnte fast alles aufschreiben oder zeichnen. Mary Jane spielte stundenlang mit ihm Gesellschaftsspiele und brachte ihm ein Malbuch mit kleinen Zahlen, die er verbinden mußte, bis Bilder daraus entstanden. Das faszinierte ihn so sehr, daß er von sich aus solche Punkt- oder Zahlenzeichnungen erfand. In ihrer zweiten Woche auf der Kinderstation schenkte Raoul Mary Jane ein Bild, auf dem sie die Punkte verbinden mußte.
Sie nahm den Bleistift und folgte den Zahlen. Herauskam eine Krankenschwester, komplett mit flachen Schuhen und Namensschild. Doch als sie die Punkte im Gesicht verband, erkannte sie ihr eigenes Gesicht, die zarten Wangenknochen, die mandelförmigen Augen, die lächerlich große Nase. Sie nickte, versuchte zu lächeln. Da nahm Raoul ihr den Bleistift ab. »Linda Mary Jane«, schrieb er und sah sie strahlend an. Zunächst wußte sie damit nichts anzufangen. Doch dann fiel ihr ein, daß linda im Spanischen »hübsch« hieß. Sie sah in Raouls verwüstetes
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