Die schwarze Hand des Todes
wussten sie noch immer sehr wenig. Laut Jennys Nachbarn war Ros Daniels auf genauso rätselhafte Weise verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Eines Tages war sie mit einem Rucksack auf dem Rücken die Straße heraufgekommen und hatte bei Jenny an die Tür geklopft. Ein alter Mann, der ihr auf dem Weg zur Post begegnet war, hatte ihr Haar als »zottelig« beschrieben. Ihm waren auch ihre schweren Springerstiefel und die Nasenringe aufgefallen. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren war er nicht mehr auf dem neuesten Stand, was die aktuellen Modetrends anging, aber er war ein sehr genauer Beobachter. Er hatte sich die Bemerkung nicht nehmen lassen, dass sie seiner Meinung nach keinen BH getragen hatte.
Aber den Namen der jungen Frau hatten die Beamten erst von einer Arbeitskollegin aus dem Call-Center der Global Insurance erfahren, die Jenny einmal zu Hause besucht hatte und ihrem Hausgast vorgestellt worden war. Dass sie sich überhaupt noch an Ros’ Namen erinnerte, grenzte an ein Wunder.
»Sie war noch ein Mädchen. Höchstens zwanzig, würde ich sagen. Der studentische Typ, wenn Sie wissen, was ich meine. Rastalocken und Armyhose. Hockte mit hängenden Schultern auf dem Fußboden, als ob sie nie gelernt hätte, wie man auf einem Stuhl sitzt.
Die hatte noch nie in ihrem Leben einen Handschlag gearbeitet, das sah man ihr an. Auf jeden Fall hatte sie es nicht nötig, in einem Call-Center Versicherungen an den Mann zu bringen.«
»Hat sie viel gesagt?«
»›Hi.‹ Mehr nicht. Und sogar das klang ziemlich herablassend. Als ob sie mich mit einem Blick taxiert und für zu langweilig und spießig befunden hätte. Als ob sich die Mühe nicht lohnte, mich zur Kenntnis zu nehmen. Ziemlich unverschämt von ihr, fand ich. Ich meine, wenn ich langweilig und spießig bin, dann war Jenny Weston es auch. Was hat sie bloß in Jennys Haus gesucht, diese Ros?«
»Hat Jenny Ihnen nie erklärt, wer sie war?«
»Nein. Am nächsten Tag wollte ich sie ein bisschen aushorchen. So auf die unauffällige Tour. Ich hab sie gefragt, wo Ros herkäme, und Jenny hat gesagt, aus Cheshire. Aber dann hat sie sofort das Thema gewechselt. Fast so, als ob sie mir schon viel zu viel verraten hätte. Sie wollte nicht über das Mädchen reden, so viel stand fest. Jenny konnte ziemlich zugeknöpft sein. Was sie mit dieser Ros zu schaffen hatte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
Fry beobachtete Maggies unruhige Hände. Dass sie auch auf das Thema Katze nicht angesprungen war, wunderte sie eigentlich gar nicht. Man sah sofort, dass es in der ordentlichen Wohnung der Anwältin noch nie ein Haustier gegeben hatte.
»Jennys nächster Geburtstag wäre am elften Dezember gewesen«, fuhr sie fort. »Sie war Schütze. Sie hat sich für Horoskope interessiert. Sie hatte einen silbernen Sternzeichenanhänger an ihrer Halskette. Kommenden Dienstag hätte sie wegen einer losen Füllung einen Termin beim Zahnarzt gehabt. Jenny Weston gehörte zu den Leuten, die ihre Weihnachtseinkäufe schon früh erledigen. Sie hatte bereits einen Kaschmirpullover für ihre Mutter besorgt und für ihren Vater, der früher bei der Royal Air Force war, ein Buch über Flugzeugwracks im Peak District. Sie hatte sogar schon ein Geschenk für ihren Kater, eine Spielzeugmaus mit Glöckchen.«
Maggie seufzte. »Warum erzählen Sie mir das alles? Ich will davon nichts wissen.«
»Jenny hatte eine Woche Urlaub genommen. Offenbar liebte sie den Peak District. Sie nicht auch, Maggie?«
»Das war einmal«, antwortete sie. »Inzwischen habe ich meine Meinung geändert.«
»Jenny muss ihn bis zu ihrem letzten Atemzug geliebt haben. Diese Desillusionierung ist ihr erspart geblieben.«
»Und?«
»Sie war Mitglied beim National Trust. Wir haben bei ihr jede Menge Fotos von historischen Gebäuden und Naturschutzgebieten gefunden. Fotografieren war auch ein Hobby von ihr. Eines der Anwesen, die sie am liebsten besucht hat, scheint Hammond Hall gewesen zu sein. Kennen Sie Hammond Hall nicht auch?«
»Wenn es in meiner Akte steht, wird es schon stimmen«, sagte sie.
»Führen Sie nicht ehrenamtlich Touristen durchs Schloss?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Dann könnten Sie Jenny Weston begegnet sein. Vielleicht haben Sie ihr mal die Gobelins aus der Tudorzeit erklärt oder ihr den Weg zur Damentoilette gezeigt.«
»Ich nehme die Besucher eigentlich gar nicht wahr. Sie sind bloß eine anonyme Masse. Sobald sie gegangen sind, habe ich sie vergessen. Es sei denn, sie hätten
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