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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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Grenzsituationen genauso ungezogen wie die Leute aus Honduras sind, nur berechnender und scheinheiliger. Wir haben den ganzen Abend über die öffentlichen Bauten in Philadelphia, den neuen Gouverneur, das barbarische Sommerklima, die Fliegen- und Mückenplage geredet, bis der Nachtisch kam und eine der Damen die skandalöse Untreue irgendeines berühmten Politikers zum Thema machte. Es begann derjenige zu sprechen, der am meisten
seniority
hatte und wahrscheinlich auch die meiste Erfahrung in eben dem, was er anprangerte. Während er an seinem Ehering drehte – als ziehe er die entscheidende Mutter eines Zahnradwerks fest, das am Auseinanderspringen war –, drechselte er eloquente Phrasen über den letzten Sinn des Eheversprechens. Einer wies auf Russells
Marriage and Morals
hin. Ich erinnerte mich daran – ich hatte das Buch in jungen Jahren gelesen –, dass dem Kapitel »Ehe« das Kapitel »Prostitution« nachfolgte. Ich sagte es laut, und alle schauten mich an, schwiegen, bis einer der Yankees, der rechts von mir saß, in ein väterliches Gelächter ausbrach, Schulterklopfen,
oh you Mexicans.
Ich hatte plötzlich ein verzweifeltes Bedürfnis zu urinieren – das geht mir immer so, wenn ich auf einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe. Eine der Ehefrauen forderte eine Erklärung, die ich ihr dann nicht geben musste, weil der Argentinier vom Tisch aufstand und sich verabschieden wollte, womit er die Spannungauflöste. Die Damen taten sich zusammen, die Herren zündeten ihre Zigarren an, und sobald es ging, verabschiedete ich mich mit überströmender Herzlichkeit von dem englischen Vizekonsul, von seinen Freunden, und verließ sein Haus.
    Die Nachbarn in seiner Straße haben Schaukelstühle und Blumen auf den Veranden: womöglich Gardenien, Geranien, Petunien. Ich stieg die Stufen zu einer der Veranden hinauf und urinierte auf aromatische Geranien. Als ich mich umdrehte, um wieder hinunter zur Straße zu gehen, stieß ich gegen einen Blumentopf, der rollte die Treppen hinunter, und die Erde fiel raus. In der Dunkelheit konnte ich einen Teil der Erde zusammenkratzen, ich stopfte sie, so gut es ging, zurück in den Topf, und schleppte, nur um keine Spuren zu hinterlassen, den Blumentopf mit nach Hause.
    Ich öffnete meine Wohnungstür und begrüßte die Scheißyankees, stellte meine neue Errungenschaft auf den Esstisch und zog mir einen Stuhl heran. Ich setzte mich und wollte den letzten Rest meines Whiskyvorrats mit den dreien teilen. Die Katzen strichen unruhig oder vielleicht nur neugierig um den neuen Gegenstand herum. Als ich unsere vier Gläser auf dem Tisch verteilt und auf gut Glück jedem seine Unze eingeschenkt hatte, legte ich eine Hand auf den Blumentopf. Ich sondierte die Ränder, kratzte mit meinen Nägeln in der lockeren Erde. In der Mitte wuchs ein Busch oder ein kleiner trockener Baum – ein Orangenbaum, nach der Textur des Stammes und der Kühnheit zu urteilen, mit der sich die Ästchen ausbreiteten. Ich berührte das Gefäß zunächst mit denHandflächen, dann mit den Fingerkuppen. Ich wusste fast sofort, dass dies kein gewöhnlicher Blumentopf war. Ich ging seine Reliefs nach und stellte fest, das war mein Blumentopf, der grün geflammte, neben dem ich fast alle guten Texten meiner Jugend geschrieben hatte. Und wenn es nicht mein alter Blumentopf war, so glich er ihm doch genau, und das genügte. Ich geriet derart in Begeisterung, dass ich die Scheißyankees mit Fußtritten verscheuchte. Auf einem Stück Papier, das ich auf dem Eisschrank fand, begann ich einen Brief zu schreiben, wie man an einen toten Freund schreibt, vielleicht waren es aber auch Notizen für einen Roman.
    Ich lese sie heute wieder, jetzt bei Tageslicht und mit Lupe. Als Einziges kann ich entziffern:
    »Der Roman wäre in der ersten Person geschrieben, von einem Baum (einem Baum durchgestrichen) einer Frau mit braunem Gesicht und tiefen Augenringen, die vielleicht schon tot ist.«
    *
    Meine Theorie von den vielen Toden habe ich mit Homer entwickelt. Oder vielleicht müsste ich sagen, er war es, der sie in den Raum gestellt hat, und ich habe sie nur an seiner Seite ausgearbeitet.
    Es ist nämlich so, dass die Leute in ein und demselben Leben mehrmals sterben, geschätzter Herr Owen.
    Wie das, Herr Collyer?
    Die Leute sterben, lassen unverantwortlicherweise irgendwoein Gespenst von sich zurück, und dann leben beide weiter, Original und Gespenst, jeder für sich.
    Und wie bekommt man heraus, wer das Gespenst von wem

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