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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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viele Liter Wasser und kotzte sie dann in einen Eimer aus. Das war kein Trick, Papa, er trank und kotzte wirklich ganz viel. Und dann hat Mama uns Erdbeer-
lollypops
gekauft. Aber du bist ja allergisch auf Erdbeeren, Papa, und kannst daran sterben.
    *
    Seit einer Woche habe ich nicht mit meinem Mann gesprochen. Ich weiß, dass er zu Hause schläft, weil ich manchmal nachts, wenn ich nicht schlafen kann, spüre, wie er sich ins Bett legt. Er riecht nicht gut. Er riecht nach Straße, nach Restaurants. Er riecht nach Menschen. Und ich weiß, dass er sich an manchen Tagen in das Bett des Mittleren schleicht und dort schläft. Ich höre, wie sie morgens zusammen aufstehen, duschen, mit der Kleinen frühstücken, zur Schule gehen. Manchmal nimmt er die Kleine mit und bleibt den ganzen Tag mit ihr weg. Andere Male lässt er sie hier bei mir und kommt erst abends heim. Wenn er zurückkommt, begrüßt er die Kinder, legt sich auf unser Bett und schaltet den Fernseher an. Wenn ich zu Bett gehe, steht er auf und beginnt, an etwas zu arbeiten.
    *
    Ich habe allmählich den Verdacht, dass ich in jenem Sommer 28 so etwas wie einen Teufelspakt eingegangen bin. Ich erinnere mich natürlich nicht daran, glaube auch nicht wirklich an den Teufel, auch nicht an Goethe oder Marlowe. Aber da muss irgendwann zwischen meinen verschiedenen Toden etwas passiert sein; etwas, das den blinden, fetten Dreipfünder, der ich heute bin, erklärt. Da ich vom Teufel nichts dafür bekommen habe, kann ich mir weder die Strafe dieser Brüste erklären, noch diesen so uneleganten Tod.
    *
    In jenem Leben war fast niemand endgültig gestorben. Xavier zum Beispiel war nicht gestorben, obgleich auch er alle naslang starb. Neben meinem Orangenbaum schrieb ich ihnen Briefe, als seien wir alle längst Gespenster, als trüge ich mit meiner Beschreibung des gesunkenen Schiffs Manhattan zur Inszenierung unserer Nachwelt bei. »Durch beide Fenster kam der Park herein, ganz Kinderstimmen«, schrieb ich Xavier. »Es ist ein gestufter Park, wie eine Schauspielarena, die man vom Forum meines Fensters aus sieht. Hier sind die Kinder Kinder. Die Großen küssen sich, zuweilen, wenn sie nicht zu müde sind. Ich bin allein und nackt, nur von einem seidenen Morgenmantel bedeckt«: die Syntax erstrebter Unglückseligkeit.
    Doch eines Tages ging mein Orangenbaum ein. Ich war zu den Niagarafällen gereist und hatte ihn vor meiner Abfahrt nicht gegossen. Als ich zurückkam, war er völlig verdorrt, als seien Jahre vergangen und nicht nur knapp zwei Wochen. Sein plötzlicher Dürretod machte mich so traurig, schien mir auf seine Weise so prophetisch, dass ich die Treppen bis zur Dachterrasse meines Gebäudes hochstieg und ihn dort schlicht aussetzte.
    *
    Einmal, es war zu Herbstanfang, konnte ich die Frau mit dem dunklen Gesicht und den Augenringen länger sehen als den kurzen Moment lang, den uns sonst unsere jeweiligen Fahrten in parallelen Zügen zugestanden. Die Türen in meiner U-Bahn hatten sich verklemmt, und wir blieben mehr alszehn Minuten in der Station hängen. Da näherte sich von hinten auf den Nachbarschienen ein anderer Zug, der neben dem unseren hielt. Im Waggon gegenüber saß die Frau, den Kopf ans Fenster gelehnt, sie trug einen olivgrünen Stoffhut und einen bis zum Hals zugeknöpften roten Mantel. Sie las ein Buch mit weißem Einband. Den Kopf ein wenig neigend, konnte ich den Titel lesen, der zu meiner Überraschung ein spanisches Wort war:
Obras
, stand dort. Die Frau fühlte sich beobachtet und blickte auf – die riesigen Augenringe, die riesigen Augen. Wir blickten uns an wie zwei von einem heftigen Blitz künstlichen Lichts geblendete Tiere, bis der Zug wieder anfuhr.
    *
    Homer glaubte mir, als ich ihm sagte, ich hätte Ezra Pound in der Metro gesehen und dass es eine Frau gäbe, die ich immer in einem anderen Zug sah. Bei dir ist es nun mal so, sagte er, dass du dich auch an die Zukunft erinnern kannst.
    *
    Die Kinder spielen Verstecken in diesem verwinkelten Haus. Es ist eine andere Spielart von Verstecken. Der Mittlere versteckt die Kleine, und ich muss sie finden.
    *
    Gestern Nacht bin ich etwas betrunkener als gewöhnlich nach Haus gekommen, von einem Dinner beim englischen Vizekonsul. Anwesend waren er, seine Frau, ein womöglichschwuler Argentinier und drei Yankees (Männer, keine Katzen) mit ihren drei Yankeefrauen (auch keine Katzen, aber fast). Das moralische Problem der Yankees ist, dass sie sich selbst für Schweden halten, aber in

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