Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
kann auch an anderen Orten leben als nur in Palästen und Schlössern. Man kann nach anderen Melodien |532| tanzen als nur der Hofmusik. Wir müssen nicht lebenslang einem König und einer Königin dienen. Ich habe meine Kindheit und Jugend bei Hof verschwendet. Es tut mir leid, daß ich arm sein werde, aber ich will verdammt sein, wenn ich dieses Leben hier vermisse.«
»Und Eure Kinder?« fragte sie.
Diese Frage war wie ein Schlag in die Magengrube und raubte mir den Atem. Meine Knie wurden weich, und ich sank zu Boden. »Oh, meine Kinder«, flüsterte ich tonlos.
»Die Königin behält sie?« wollte sie wissen.
»Ja«, erwiderte ich. »Ja. Sie behält meinen Sohn.« Ich hätte noch viele bittere Worte sagen können. Daß sie meinen Sohn behielt, weil sie selbst keinen bekommen konnte. Daß sie mir alles weggenommen hatte, was sie nur erwischen konnte, daß sie mir immer alles wegnehmen würde. Daß sie und ich sowohl Schwestern als auch erbitterte Rivalinnen waren, daß wir niemals aufhören würden, einander eifersüchtig zu beäugen, ob nicht die andere das größere Stück vom Kuchen bekam. Anne wollte mich bestrafen, weil ich mich weigerte, in ihrem Schatten zu stehen. Und sie wußte, daß sie das einzige Pfand genommen hatte, das mich wirklich im Innersten traf.
»Zumindest entkomme ich ihr«, sagte ich, »und dem Ehrgeiz dieser Familie.«
Madge schaute mich mit weit aufgerissenen Kuhaugen an. »Aber wohin geht Ihr?«
Anne verlor keine Zeit, meine Abreise zu verkünden. Vater und Mutter wollten mich nicht einmal mehr sehen, ehe ich den Hof verließ. Nur George kam in den Stallhof, um zuzuschauen, wie meine Truhen auf einen Wagen geladen wurden, William mir in den Sattel half und dann auf sein Jagdpferd stieg.
»Schreib mir«, sagte George. Er hatte sorgenvoll die Stirn gerunzelt. »Geht es dir gut genug, daß du die lange Reise machen kannst?«
»Ja«, antwortete ich.
»Ich passe auf sie auf«, versicherte ihm William.
|533| »Bisher ist Euch das nicht besonders gut gelungen«, meinte George unfreundlich. »Sie ist ruiniert, hat ihre Rente verloren und ist vom Hof verbannt.«
Ich sah, wie sich Williams Hände am Zügel anspannten und sein Pferd zur Seite tänzelte. »Das hat nichts mit mir zu tun«, erwiderte William schlicht. »Sondern nur mit der Gehässigkeit und dem Ehrgeiz der Königin und der Familie Boleyn. In jeder anderen Familie im ganzen Land dürfte Mary einen Mann ihrer Wahl heiraten.«
»Hört auf«, sagte ich rasch, ehe George antworten konnte.
Mein Bruder atmete tief durch und neigte den Kopf. »Wir haben sie nicht besonders gut behandelt«, gab er zu. Er schaute zu William auf, der hoch zu Roß saß, und lächelte charmant, das Boleyn-Lächeln. »Wir hatten andere Ziele im Kopf als ihr Glück.«
»Ich weiß«, antwortete William. »Aber ich nicht.«
George schaute traurig drein. »Ich wünschte, ihr beide könntet mir das Geheimnis der wahren Liebe erklären«, sagte er. »Da reitet ihr ans Ende der Welt, und doch seht ihr aus, als hätte euch gerade jemand ein Herzogtum geschenkt.«
Ich streckte William meine Hand hin, und er umschloß sie fest. »Ich habe einfach den Mann gefunden, den ich liebe«, sagte ich schlicht. »Ich kann mir keinen Mann vorstellen, der mich mehr liebt, und auch keinen ehrlicheren.«
»Dann geht!« rief George. Er zog seine Kappe, als der Wagen sich in Bewegung setzte. »Geht und seid glücklich miteinander. Ich tue, was ich kann, um dir deine Position bei Hof und deine Rente zurückzuerobern.«
»Ich will nur meine Kinder«, sagte ich. »Mehr nicht.«
»Ich rede mit dem König, sobald ich eine Gelegenheit dazu habe, und du kannst mir schreiben. Richte deine Briefe vielleicht an Cromwell, und ich spreche mit Anne. Es ist kein Abschied für immer. Du kehrst doch zurück, nicht?«
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang, als hätte er ohne mich Angst. Er schien mir überhaupt nicht wie einer der großartigsten Herren bei Hof, eher wie ein kleiner Junge, den man an einem gefährlichen Ort ausgesetzt hat.
|534| »Paß gut auf dich auf!« rief ich und merkte, wie mich plötzlich fröstelte. »Komm nicht in schlechte Gesellschaft, und gib acht auf Anne.«
Ich hatte mich nicht geirrt. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Furcht. »Ich will es versuchen.« Seine Stimme klang hohl. »Ich will es versuchen.«
Der Karren rumpelte durch den Torbogen, und William und ich ritten nebeneinander hinterher. Ich schaute zu George zurück, der plötzlich
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