Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Wir warteten, überlegten, wohin sie wohl gegangen sein mochte, als wir ihre raschen Schritte auf der Treppe hörten. Sie hielt Prinzessin Elizabeth auf dem Arm. Das Kind gluckste vor Vergnügen, daß man es aus dem Kinderzimmer geholt hatte, staunte über das flackernde Licht und freute sich, daß Anne so schnell mit ihm lief.
Im Laufen knöpfte sie dem Mädchen das kleine Kleidchen auf. Sie nickte dem Soldaten zu, der ihr die Tür öffnete. Sie war im Privatgemach des Königs, ehe die Herren dort es sich versahen.
»Wie lautet die Anklage gegen mich?« fragte sie den König, ehe sie noch ganz die Schwelle überschritten hatte.
Er erhob sich unbeholfen am anderen Ende des Tisches. Annes wütende schwarze Augen musterten die Adeligen, die rings um ihn saßen.
»Wer wagt es, mir ein Wort gegen mich ins Angesicht zu sagen?«
»Anne …«, begann der König.
»Man hat Euch mit Lügen und giftigen Geschichten gegen mich angefüllt«, sagte sie rasch. »Ich habe ein Recht auf eine bessere Behandlung. Ich bin Euch eine gute Frau gewesen. Ich habe Euch mehr geliebt als jede andere.«
Er lehnte sich schwer auf die Lehne seines Stuhls. »Anne …«
»Ich habe noch keinen Sohn ausgetragen, aber das ist nicht meine Schuld«, rief sie leidenschaftlich. »Katherine hat das auch nicht geschafft. Habt Ihr sie deswegen als Hexe bezeichnet?«
|646| Ein Raunen ging durch den Raum, als sie dieses mächtige Schreckenswort so beiläufig fallenließ. Ich merkte, daß einer eine Faust ballte und den Daumen zwischen den Zeige- und den Mittelfinger einklemmte, dabei ein Kreuz schlug, als Abwehr gegen Hexenkünste.
»Aber ich habe Euch eine Prinzessin geschenkt«, fuhr Anne fort. »Die schönste kleine Prinzessin, die es je gab. Mit Eurem Haar und Euren Augen, zweifellos Euer Kind. Bei ihrer Geburt sagtet Ihr, es sei noch viel Zeit und wir würden noch Söhne bekommen. Damals hattet Ihr noch keine Angst vor Eurem Schatten, Henry.«
Sie hatte das kleine Mädchen halb ausgezogen und streckte es ihm entgegen, damit er es genau betrachtete. Er zuckte zurück, obwohl das Kind »Papa« rief und die Ärmchen nach ihm reckte.
»Ihre Haut ist vollkommen, ihr Körper makellos! Niemand kann mir sagen, daß sie nicht die großartigste Prinzessin sein wird, die dieses Land je hatte! Ich habe Euch dieses wunderschöne kleine Mädchen geschenkt! Und ich werde Euch noch mehr Kinder schenken! Könnt Ihr sie ansehen und bezweifeln, daß sie einen Bruder haben wird, der ebenso stark und schön sein wird?«
Prinzessin Elizabeth blickte in den Kreis ernster Gesichter ringsum. Ihre Unterlippe bebte. Anne hielt sie in den Armen, ihr strahlendes Gesicht war gleichzeitig Einladung und Herausforderung. Henry betrachtete die beiden, wandte dann den Blick von seiner Frau und ignorierte seine kleine Tochter.
Ich hätte gedacht, daß Anne einen Wutausbruch haben würde, weil er nicht den Mut aufbrachte, ihnen ins Gesicht zu sehen. Doch plötzlich ebbte ihre Leidenschaft ab, als wüßte sie, daß sein Entschluß gefaßt war und daß sie durch seine starrköpfige Dumpfheit würde leiden müssen.
»O Gott, Henry, was habt Ihr gemacht?« flüsterte sie.
Er sagte nur ein Wort. »Norfolk!« Mein Onkel erhob sich von seinem Platz am Tisch und schaute sich zu George und mir um. Wir waren unschlüssig an der Tür stehengeblieben.
»Begleitet Eure Schwester hinaus«, sagte er zu uns. »Ihr hättet niemals zulassen dürfen, daß sie herkommt.«
|647| Schweigend traten wir in das Gemach. Ich nahm Anne die kleine Elizabeth ab. Das Kind kam mit einem Freudenjauchzer zu mir und umklammerte meinen Nacken. George legte Anne den Arm um die Taille und führte sie aus dem Raum.
Ich schaute mich um. Henry hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er hielt seinen Blick abgewandt von uns Boleyns, von unserer kleinen Prinzessin, bis die Tür hinter uns zufiel. Wir waren ausgeschlossen. Und immer noch wußten wir nicht, worüber sie geredet hatten, was sie beschlossen hatten oder was als nächstes geschehen würde.
Wir gingen in Annes Gemächer zurück. Die Amme kam uns entgegen und holte Elizabeth. Ich ließ sie mit Bedauern gehen, ich sehnte mich danach, mein eigenes Kind in den Armen zu halten. Ich dachte an William und fragte mich, wie weit er auf seiner Reise zu meinem Sohn gekommen war. Die Vorahnung eines Unheils hing über dem Palast wie eine Gewitterwolke.
Als wir die Tür zu Annes Privatgemächern öffneten, sprang eine geschmeidige Gestalt hervor. Anne schrie auf
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