Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
unübersehbar blieb. Nur Werner Bocholt, der mit seiner Gattin und zweien seiner Töchter mit von der Partie war, obwohl er hier mit keinerlei Heiratskandidaten rechnete, schüttelte den Kopf, was wiederum niemand wunderte.
Ina Hegolt saß im schwarzen Witwengewand neben der Gastgeberin, was nicht der Rangordnung entsprach, aber niemanden störte. Die arme Madam Hegolt wurde allgemein bedauert, weil ihr liebender Gatte auf so tragische Weise ums Leben gekommen war. Leider hatte er ihr nur ein Erbe hinterlassen, das ihr und ihren Kindern auf Dauer nicht einmal ein bescheidenes Leben ermöglichen würde, aber wenigstens hatte sie diese seltsame Krankheit überstanden, die sie schon vor dem Tod ihres Gatten gequält hatte. Ihre beiden Töchter, die keinen Tag bereit waren, von ihrer Seite zu weichen, schliefen schon im Haus, die frische Luft hatte sie ermüdet.
Tatsächlich wirkte Ina Hegolt noch ein wenig mager und blass, sie sprach wenig und wenn, nur unsicher, aus ihren Augen sprachen gleichwohl wieder Zuversicht und Kraft. Es hieß, einige gelangweilte Matronen in der Stadt berieten schon, welche Bande zu knüpfen seien, um die arme Witwe Hegolt wieder gut zu verheiraten. Sie sei noch jung genug und recht ansehnlich. Drei Kinder seien dem natürlich hinderlich, womöglich finde sich ein halbwegs betuchter Witwer, der selbst mit einer Kinderschar gesegnet sei. Dass Ina beteuert hatte, sie werde niemals wieder heiraten, wussten sie nicht. Sie hätten es auch nur dem Schmerz über den Verlust zugeschrieben und gelächelt, weil solche Anwandlungen stets rasch vorübergingen. Sie kannten schließlich die Welt und das Leben.
Auch Elske Probst war da, an ihrer Seite Pieter Hillmer, der sich in dieser Gesellschaft sichtlich unwohl fühlte. Es hieß, sie habe endlich eingewilligt, ihn zu heiraten, so hatte er sich ihrem Wunsch gefügt, hatte angespannt und war mit ihr und den beiden Cordes nach Wandsbek hinausgefahren. Dass sie gleich neben Wagner und seiner Frau Karla platziert waren, hatte nur wenige Minuten Unbehagen ausgelöst. Karla hatte die seltene Gabe, allein durch ihre Anwesenheit Freundlichkeit herzustellen. Wagner war einzig Karla zuliebe hergekommen. Er zeigte sich schweigsam und steif.
Luis, der Flößer aus der Gegend hinter Pirna, hatte Hamburg schon in den letzten Märztagen verlassen, er wollte Ostern wieder zu Hause sein. Weder er noch Rosina hatten seine verschollene Base gefunden. Dass er ihr sehr nah gewesen war, wusste er nicht, vielleicht würden sie einander eines Tages doch noch finden. Die Waisenhausakten hatten keinen Hinweis ergeben, in den Jahren, die infrage kamen, hatte sich kein Eintrag über ein Mädchen mit dem Namen Sachse oder Mey gefunden. Blieb nur noch die Möglichkeit des Findelkindes, dann war jede weitere Suche vergeblich. Rosina hatte noch eine Idee. Sie versprach wenig Erfolg, doch fand sie es besser, eine Frage zu viel als eine zu wenig zu stellen. Matti, die alte Hebamme vom Hamburger Berg, erinnerte sich an die erstaunlichsten Dinge und hatte immer eine Schwäche für wandernde Komödiantinnen gehabt. Sie hatte Matti und die alte Lies, die seit einigen Jahren bei ihr lebte, schon viel zu lange nicht mehr besucht. Gerade jetzt im Mai war es in Mattis Garten besonders schön. Sonntag, wenn Tobias keine Schule hatte und Pauline ihren freien Tag bei ihrer Tochter verbrachte, war ein guter Tag, um mit dem Jungen durch die frische Luft und hinaus auf den Hamburger Berg zu wandern.
Wilhelmine Cordes hatte ihren Sohn mitgebracht, der allerdings nicht zu sehen war. Moritz war mit Emanuel Hegolt bei den Pferden der Gäste, bei jedem seiner Schritte Tobi an seinen Fersen, der den Älteren zu seinem Vorbild auserkoren hatte. Was wiederum Rosina beruhigte, weil es wirklich Schlimmeres und kaum einen netteren Jungen gab. Seit Dr. Pullmann, der Wundarzt der Garnison, erzählt hatte, es gebe in Frankreich Schulen für Veterinäre, Ärzte nur für Tiere, insbesondere Pferde, und er sei sicher, bald gebe es auch welche in den deutschen Ländern, war Moritz ein froher Junge. Seine Mutter träumte für ihren Sohn lieber weiter von einer Zukunft als Pastor oder als Professor an einer Handelsakademie, so ehrliche wie ungefährliche Berufe, aber wenn es so weit war, würde er seinen eigenen Weg gehen. So war die Welt, und so war sie gut. Hauptsache, er wurde kein Vagabund und Tagedieb.
Wer saß noch um den langen Tisch? Auch Molly war da, sie lebte noch im Haus der Herrmanns, bis sie ihre
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