Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
abenteuerlich. Selbst wenn man der Idee folgte: warum dann bis nach Venedig? Da hätte Dresden oder Frankfurt, sogar Hannover oder Bremen auch gereicht.
Er hätte nicht mehr mit ins Theater gehen sollen. Das brachte leicht auf verrückte Ideen.
Kapitel 6
Dienstagnachmittag
Madam Pauli war eine überaus beschäftigte Frau. Sie stand nicht nur ihrem Haushalt vor, zu dem außer ihrem Gatten und den vier Kindern auch eine mittellose, häufig kränkelnde, somit wenig nutzvolle Cousine gehörte. Dazu kamen die zu beaufsichtigenden und anzuleitenden Dienstboten, nämlich eine Köchin, zwei Mädchen, ein Diener, der zugleich als Kutscher und Mann fürs Grobe fungierte, und zeitweilig ins Haus kommende Aushilfen. Zur Mittagsmahlzeit saßen ein Kontorschreiber, zwei Unterschreiber und zwei Lehrlinge mit am Familientisch. Einer der beiden Letzteren, mittlerer Sohn einer Kaufmannsfamilie in Riga, bewohnte auch eine der Dienstbotenkammern unterm Dach, was in heißen Sommer- und eisigen Winternächten kein Vergnügen, aber das übliche Los eines Kaufmannlehrlings war, selbst wenn er aus wohlhabendem Haus stammte.
Zudem, so hieß es, habe Madam Pauli auf die ihr eigene diskrete Weise stets ein wachsames Auge auf die Geschäfte des Hauses Pauli, sie verstehe sich auf Zahlen, sogar auf Bilanzen, und wisse auch mit den Tabellen der zahlreichen verschiedenen Währungen, Maße und Gewichte umzugehen. Was für das Unternehmen durchaus von Vorteil war, denn der Herr des Hauses – das wusste jeder, der je mit ihm zu tun gehabt hatte – war ein vergnügter Mann. Das bedeutete nichts anderes, als dass er über seine Vergnügungen hin und wieder den guten Fortgang seiner Geschäfte vergaß. Einer seiner Freunde vermutete heimlich, das wäre anders, hätte er eine dumme Ehefrau, eine, die absolut nichts von den Geschäften verstünde. Andererseits stand zu vermuten, dass Monsieur Pauli seine Frau mit Bedacht gewählt hatte, denn wenn er auch ab und zu ein dickes Fell brauchte, um die durchaus berechtigte Strenge seiner Gattin zu ertragen (oder mit einem charmanten Lächeln zu ignorieren, was weitaus häufiger vorkam), gab ihm sein Leben, so wie es war, viel Freiheit.
Zudem war Madam Pauli noch im fortgeschrittenen Alter von gut vierzig Jahren eine schöne Frau, der niemand ansah, dass sie sechs Kinder geboren hatte. Ihre Haut war rosig und glatt, ihre Taille auch ohne übermäßiges Schnüren schmal, ihre Haltung stolz. Dabei war sie nur die Tochter eines Kleinhändlers, der durch glückliche Umstände zu genug Geld gekommen war, um seine einzige Tochter mit einer Mitgift auszustatten, die sie im Verein mit ihrer Schönheit und ihren Fähigkeiten auch für einen aufstrebenden Seidenhändler aus gutem Hause zu einer passablen Partie machte.
Als Madam Pauli hatte sie stets alle ihre Pflichten erfüllt – die meisten erfüllte sie immer noch –, auch ihre Kinder waren schön und wohlgeraten, die Geschäfte liefen gut, sie hielt sich für eine erfolgreiche und zufriedene Frau.
Einiges davon hatte Wagner in der Weddemeisterei in Erfahrung gebracht, das meiste jedoch in der kurzen Mittagspause von seiner Frau gehört und wieder einmal gestaunt, woher die stille, sogar schüchterne Karla so viel wusste. Man mochte es Klatsch nennen, für einen Mann seiner Profession verbargen sich darin oft bedeutsame Informationen und Hinweise. Wahrscheinlich, so hatte er gedacht, während er die zum dritten Mal aufgewärmte Kohlsuppe aß und dabei seine über den Stickrahmen gebeugte junge Frau mit verstohlenem Entzücken beobachtete, wahrscheinlich lag es gerade daran. Sie wirkte für die meisten Menschen beinahe unsichtbar, da plapperte, plauderte und klatschte man auch in ihrer Gegenwart einfach weiter. Er hingegen hatte sie damals, als sie sich kennenlernten, gleich vom ersten Moment an sehr deutlich wahrgenommen, und gewiss nicht nur, weil sie im Verdacht gestanden hatte, eine Diebin zu sein. Leider zu Recht, mehr oder weniger und in aller kindlichen Unschuld, aber das war lange her, niemand wagte es, ihn daran zu erinnern.
Nun saß er Madam Pauli gegenüber und versuchte, in ihr die Frau zu sehen, von der Karla erzählt hatte. Es mochte alles stimmen, sicher tat es das. Das Haus der Paulis stand nicht in der besten Gegend der Stadt, tatsächlich am Rande des schlecht beleumundeten Gängeviertels um St. Jakobi, aber die Fassade des Hauses zeigte wie die seiner durchaus honorigen Nachbarn zur Alster hin. Der Blick aus den oberen Etagen musste
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