Die Schwestern von Sherwood: Roman
Melinda heute nach der Fortbildung noch einmal nach Kensington gefahren.
Warum änderte ein Mensch seinen Namen? Weil er mit seiner Vergangenheit brechen wollte? Weil er vor etwas floh?
Die möglichen Antworten darauf waren alle gleichermaßen beunruhigend, fand Melinda, und die Korrespondenz, die chronologisch geordnet vor ihr lag, schien das nur zu bestätigen. Sie seufzte.
Über mehrere Monate hatte Mr Finkenstein einen regen Schriftverkehr mit einem gewissen Doktor Stevenson gehabt, der in Verbindung mit der Gehörlosen-Gemeinschaft in London stand und den der Bankdirektor im Fall von Jacob um Hilfe gebeten hatte. Der Arzt hatte sich auf einfühlsame Weise nach seinem Sohn erkundigt, gezielt Fragen gestellt und Mr Finkenstein schließlich behutsam die Möglichkeiten eines anderen Unterrichts und des Erlernens der Gebärdensprache erläutert. Er selbst habe, so schrieb Stevenson, lange geglaubt, die lautsprachliche Verständigung und das Lippenlesen seien der einzig richtige Weg, doch die Jahre mit seinen tauben Patienten hätten ihn schließlich etwas anderes gelehrt. Dann kam er das erste Mal auf ihre Großmutter zu sprechen:
… ich habe lange überlegt, was im Fall Ihres Sohnes Jacob das Beste für ihn wäre, nicht nur in pädagogischer Hinsicht, sondern auch menschlich, und ich möchte Ihnen eine junge Frau ans Herz legen, die mir wie geschaffen für Jacob scheint. Sie nennt sich Helene, auch wenn das nicht ihr richtiger Name ist, und sie ist selbst taub …
Ihre Großmutter! Melinda starrte auf die Zeilen. Bis hierher hörte es sich nicht allzu erschreckend an. Doch einige Briefe später schrieb Stevenson: Angesichts der zurückliegenden Ereignisse muss mit ihrer wahren Identität leider mit Diskretion umgegangen werden. Die Erfahrungen, die hinter Helene liegen, sind traumatischer Natur. Sie hat viel durchgemacht und möchte England aus persönlichen Gründen verlassen, sodass sie bereit wäre, Sie und Ihre Familie nach Berlin zu begleiten …
Und weiter hieß es:
Ja, ich kenne ihre Geschichte, Mr Finkenstein. Ich selbst bin auf unheilvolle Weise damit verbunden, wenn auch nur am Rande, doch ich habe mein Versprechen gegeben zu schweigen. Es gibt mehr als einen Grund, ihren wahren Namen nicht preiszugeben. Seien Sie sich indessen gewiss, dass die junge Frau mein volles Vertrauen genießt und des Ihren würdig ist. Glauben Sie mir, Sie könnten sich keine bessere Gouvernante für Jacob wünschen! Geben Sie ihr die Chance, dass Sie sie kennenlernen …
Melinda blickte auf. Und genau das hatten die Finkensteins schließlich auch getan, wie sie wusste. Das persönliche Treffen mit ihrer Großmutter hatte ihre Zweifel vollständig ausgeräumt, wie sie bereits von Evelyn Finkenstein wusste.
Aus den darauffolgenden Briefen wurde klar, dass der Bankdirektor schließlich persönlich seine einflussreichen Beziehungen hatte spielen lassen, um ihr zu neuen Papieren zu verhelfen. Vielleicht hatte ihre Großmutter ihm doch etwas gestanden? Ein Geheimnis, das Mr Finkenstein genauso wie Doktor Stevenson mit ins Grab genommen hatte?
Melinda seufzte erneut. Die Briefe gaben keinen Aufschluss darüber, was genau im Leben ihrer Großmutter Schreckliches geschehen war, und auch nicht, wie sie damals in Wahrheit hieß, musste sie erkennen. Es war frustrierend – sie befand sich in einer Sackgasse.
Ein Geräusch hinter ihr schreckte sie auf. Beatrice Finkenstein stand in der Tür. »Wie geht es Ihnen? Ich bin gerade hereingekommen. Meine Mutter erzählte mir, dass Sie hier sind. Hilft Ihnen die Korrespondenz?«
Melinda schüttelte entmutigt den Kopf. »Nein, nicht besonders. Auch wenn ich einiges über meine Großmutter erfahre. Sie scheint ein wirklich außergewöhnlicher Mensch gewesen zu sein.« Sie deutete auf die Briefe. »Aber dieser Doktor Stevenson hüllt sich leider in Schweigen über ihren wahren Namen.«
Der Blick der Bankdirektorin war dem ihren gefolgt. »Das tut mir leid. Wahrscheinlich lebt er inzwischen auch nicht mehr. Aber vielleicht gibt es jemand anderen in dieser Organisation, sie existiert noch. Soweit ich weiß, steht mein Bruder Jacob mit einigen Leuten von ihnen in Kontakt. Ich werde mich bei ihm erkundigen«, versprach Beatrice Finkenstein. Man merkte ihr an, dass es sie inzwischen selbst brennend interessierte, welche geheimnisvolle Vergangenheit die ehemalige Gouvernante ihres Bruders gehabt hatte.
Nachdenklich ließ sie sich auf einen Stuhl neben Melinda nieder. »Schauen Sie, was meine
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