Die Schwestern von Sherwood: Roman
eigenartige Empfinden beherrschte ihn, er würde neben sich stehen und seinem eigenen Leben zusehen wie dem einer anderen Person. Nur einen einzigen kurzen Moment hatte er in den letzten Tagen etwas fühlen können: als er diese Frau geküsst hatte. Er wusste noch immer nicht, was in ihn gefahren war. Im Nachhinein erschien es ihm fast wie ein Traum, wäre nicht dieses wilde, tiefe Empfinden gewesen. Es hatte seine Betäubung wie einen schwarzen Vorhang durchrissen, hinter dem sich ihm etwas anderes zeigte. Die Berührung ihrer Lippen und der Geruch ihres Haares waren so gegenwärtig, als wäre es erst eben geschehen. Es lag vermutlich nur an seiner verzweifelten Situation, dass er einem Kuss eine solche Bedeutung beimaß, hatte er sich gesagt, doch er wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Etwas an dieser Frau war anders als an allen anderen. Als würde sie tatsächlich aus einer anderen Welt stammen, und in gewisser Weise tat sie das auch – ihr Verhalten war frei von jeder gesellschaftlichen Heuchelei und jedem Kalkül. Sie war einfach nur sie selbst. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung und wie er versucht hatte, ihr ein Kompliment zu machen, auf dieselbe routinierte Weise, wie er es schon unzählige Male zuvor bei so vielen Frauen getan hatte. Nicht ahnend, dass sie ihn nicht hören konnte – und doch hatte sie genug verstanden, um ihm mit einem einzigen spöttischen Lächeln die Lächerlichkeit seines eigenen Verhaltens deutlich zu machen. Er war sich entsetzlich dumm vorgekommen, und es hatte ihn zugleich aufgebracht, dass sie es wagte, ihm seine Unzulänglichkeit so direkt zu zeigen.
Er begriff, dass sie keine Frau war, die er auf die übliche Weise durch seinen Titel oder sein Aussehen beeindrucken konnte oder die sich allein durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen würde. Diese Tatsache verwirrte ihn, und gleichzeitig zollte er ihr dafür unerwarteten Respekt.
In den schweren Tagen, in denen es seinem Vater nach und nach immer schlechter gegangen war, hatte er sie manchmal bei seinen Ausritten und Spaziergängen beobachtet. Ein leises Gefühl der Freude ergriff ihn, wenn er ihre hellen Haare von Weitem im Moor erblickte. Nach und nach hatte sie sich so in seine Gedanken und Träume geschlichen.
Als er sie wenige Stunden, nachdem sein Vater gestorben war, oben auf dem Hügel traf, lag etwas in ihrem Blick, das alles veränderte. Er hatte allein sein wollen, doch dann stellte er auf einmal fest, dass er sich nach ihrer Gegenwart gesehnt hatte. Dass er genau deshalb dorthin gegangen war. In ihrem wissenden, mitfühlenden Gesichtsausdruck lag etwas Tröstendes. Es schien ihm, als verstünde sie auch ohne Worte, was in ihm vorging, und könne bis auf den Grund seiner Seele schauen. Gleichzeitig hatte sie in ihrer anmutigen Schönheit so begehrenswert gewirkt, dass er sie berühren musste …
Zum ersten Mal in seinem Leben fragte er sich jedoch, ob es richtig gewesen war, eine Frau zu küssen. Er hatte Angst, sie verschreckt zu haben. Doch sie hatte seinen Kuss erwidert, entsann er sich, und er merkte erneut, wie sehr er sich wünschte, sie wiederzusehen. Die Begegnung mit ihr erschien ihm aufrichtiger und ehrlicher als alles andere in seinem Leben.
Ein Passant, der ihn im Vorbeilaufen anstieß, riss ihn aus seinen Gedanken.
»Verzeihen Sie!«, sagte der Fremde.
Er nickte geistesabwesend. Er musste zurück. Sie warteten bestimmt schon auf ihn. Er war im Begriff, sich abzuwenden, als ihm erneut die Schachfiguren ins Auge fielen. Eine Idee schoss durch seinen Kopf. Kurz entschlossen betrat er den Laden.
Der Antiquitätenhändler, ein Mann mit spitzer Nase, der dabei war, einen goldenen Gegenstand zu polieren, blickte mit einem freundlichen Lächeln hoch.
»Guten Abend. Ich habe im Schaufenster die Schachfiguren gesehen und würde sie mir gern einmal näher anschauen.«
Der Mann hinter dem Ladentisch lächelte. »Eine exzellente Wahl, Sir. Eine echte Rarität! Die Figuren sind sehr alt.« Er ging zum Schaufenster, um sie hervorzuholen. Vorsichtig legte er sie auf dem Ladentisch auf einem Samttuch ab.
Die Feinheit der Figuren überraschte ihn. Er beugte sich fasziniert darüber. Es waren wahre Kunstwerke. »Ist das Spiel vollständig?«
Der Antiquitätenhändler nickte. »Ja, und es ist ein sehr besonderes Schachspiel. Ein orientalischer Prinz hat es im zwölften Jahrhundert für die Dame seines Herzens anfertigen lassen. Als Zeichen seines tiefen Gefühls bat er den Künstler,
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