Die Schwestern von Sherwood: Roman
Amalia sicher. Sie sah auch so nur zu gut, wer er war: ein Mann von Stand, jemand, der in der Gesellschaft eine Position innehatte und sich in der richtigen Welt niemals mit einer Frau wie ihr treffen würde. Jemand, der vermutlich zu denselben Festen und Dinners eingeladen wurde wie ihre Schwester. Und bei diesem Gedanken war Amalia endgültig klar geworden, dass er niemals erfahren durfte, wer sie wirklich war.
Sie ging mit einem Lächeln auf ihn zu, als er im selben Augenblick auch schon mit einem Schritt bei ihr war und sie in die Arme nahm. Sanft küsste er sie, und sie spürte, dass es tatsächlich keine Bedeutung hatte, wer sie sonst waren. Schließlich deutete er zu dem Felsen, in dessen Schutz er bereits eine wärmende Decke ausgebreitet hatte.
Amalia ließ sich darauf nieder, und er nahm ihr gegenüber Platz, entrollte das lederne Schachbrett und legte es zwischen sie. Es hatte etwas von einem Zeremoniell, wenn er das tat.
Er lächelte leicht und reichte ihr ein Päckchen.
Mit der Neugier eines Kindes nahm sie es entgegen. Welche Figur würde er ihr nach den Königen und Türmen als Nächstes schenken? Am Vortag hatte Amalia in der Bibliothek in Sherwood aufmerksam das Schachspiel betrachtet. Zweiunddreißig Figuren hatte es – für jeden Spieler sechzehn. Der König war die wichtigste Figur, obwohl seine Zugmöglichkeiten auf dem Spielfeld begrenzt waren, wie er ihr erklärt hatte. Ihn zu schützen und gleichzeitig den des Gegners anzugreifen bestimmte das Spiel.
Sie öffnete gespannt das Papier. Ein weißer und ein schwarzer Bauer verbargen sich darin. Fasziniert betrachtete Amalia die kleinen Figuren, die ebenso wie die anderen ungewöhnlich kunstvoll und fein gearbeitet waren.
Er streckte seine Hand aus. Behutsam nahm er ihr die Figuren wieder ab. Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Finger, und ein Hitzestrom durchfuhr sie. Die Spannung zwischen ihnen war so spürbar, dass sie mit einem Mal fast froh war, dass das Spiel zwischen ihnen stand.
Er nahm den Block, den er neben sich gelegt hatte, und schrieb etwas auf. Bauer. Er deutete auf die Figuren auf dem Spielbrett .
Amalia nickte, da sie die Bezeichnung der Figur bereits kannte. Sie formte mit den Händen ein Zeichen, das sie für das Wort verwendete, und er machte es ihr nach.
Seit ihrem ersten Treffen tat sie das. Beim ersten Mal hatte er noch etwas überrascht gewirkt, doch als sie ihn abwartend anblickte, hatte er sich schließlich bemüht, die Bewegungen ihrer Hände und die begleitende Mimik und lautlosen Lippenbewegungen nachzuahmen, die sich über die Jahre in der Sprache zwischen ihr und Cathleen entwickelt hatten.
Amalia sah, dass er jetzt einen der Bauern hochhob und eine Zahl auf den Block schrieb. Sechzehn!
Es gab sechzehn Stück davon!
Und wie zum Beweis holte er aus einer Holzschatulle, die hinter ihm lag, vierzehn weitere Bauern hervor. Er stellte sie ihrer Farbe entsprechend jeweils nebeneinander auf, sodass sich die schwarzen und weißen Bauern in zwei Reihen gegenüberstanden. Ihr fiel auf, dass die Figuren der Bauern lange Gewänder und Schwerter trugen. Es war widersprüchlich. Sie machte das Zeichen, das sie für das Wort Bauer verwendete, und ergriff dann den Block, um etwas aufzuschreiben, das sie ihm zeigte: Sie sollten eher Soldaten heißen.
Er lächelte breit und nahm ihr den Stift ab. Früher waren die Bauern im Schach Soldaten – Fußsoldaten. Die Figuren dieses Spiels sind sehr alt. Es stammt aus Persien , las sie.
Ein interessierter Ausdruck glitt über Amalias Gesicht. Persien! Sie deutete auf das Wort und machte die Gebärde dafür, dann zeigte sie auf Soldat, alt und auch auf Spiel und machte sie ihm auch dafür vor. Er wiederholte sie, und Amalia lächelte. Ihre Verständigung wurde schon jetzt mit jedem Mal besser und einfacher, stellte sie fest.
Später, als sie die Lehrstunde beendet hatten, zog er sie in seine Arme. Diese Zeichen – ist das eine richtige Sprache?
Für mich schon , bedeutete sie ihm.
Sprichst du sie auch mit deiner Familie?
Sie schüttelte den Kopf. Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Nein, nur mit meiner Schwester.
Er merkte, dass sie nicht mehr sagen wollte, und zog sie enger an sich. Stumm blickten sie beide über die Weite des Moors, und sie wünschte, sie hätte diesen Augenblick für immer festhalten können.
57
A malia spürte, wie sie sich in den Begegnungen mit ihm mehr und mehr zu verlieren begann. Ungeduldig fieberte sie den Nachmittagen mit ihm
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