Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
tatsächlich
gewesen war, hatten sie ihren Eltern oder Lukas nie erzählt. Lucie konnte ihre
beste Freundin gut einschätzen. Sie war zielstrebig, willensstark, zäh. Einzig
an Lukas hatte Rabea sich die Zähne ausgebissen. Er war seinen Weg ohne sie
gegangen. Vor ungefähr sechs Jahren schien es zwischen den beiden zu einer letzten
folgenschweren Begegnung gekommen zu sein. Rabea verschwand danach beinahe von
einem Tag auf den anderen nach Afghanistan, um dort ihren Ruf als unerschrockene
Journalistin zu begründen, während Lukas dem Jesuitenkolleg beitrat. Weder von
Rabea noch von Lukas hatte Lucie je erfahren, was damals genau zwischen den
beiden vorgefallen war, obwohl sie sie mehrmals deshalb gelöchert hatte. Es war
ein Geheimnis, das Rabea und Lukas mit niemandem teilen wollten und irgendwann
hatte sie dann aufgegeben, sie weiter danach zu fragen.
„Was steht denn in dem Brief vom Vatikan, Lukas?“, erkundigte sich
Rabea nun, ganz ungeniert neugierige Journalistin. Lukas hatte bei seinem
Eintreten den Umschlag in der Hand gehalten und auf dem Küchentisch abgelegt.
„Im Grunde geht es dich nichts an, aber da es kein Geheimnis ist:
Im Rahmen meiner Dissertation habe ich um eine Genehmigung für das Studium
einiger nicht öffentlicher Dokumente in der Vatikansbibliothek gebeten und
heute erhalten“, gab Lukas gutwillig Auskunft.
„Gratuliere!“, freute sich seine Schwester, die wusste, wie sehr
er darauf gewartet hatte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dabei registrierte
sie erstaunt, dass er sich heute Morgen noch nicht rasiert hatte, aber bevor
sie eine Bemerkung dazu machen konnte, wandte sich Rabea erneut ihrem Bruder zu: „Sag mal, Lukas. Wie gut bist du eigentlich mit
dem Oberjesuiten Ignazio Bentivoglio bekannt? Der alte Knabe steht ganz oben auf
meiner Interview-Wunschliste. Übrigens, ist was an den Gerüchten dran, dass ihn
der Altherrenfluch getroffen hat, sprich, Erweiterung der Prostata? Kannst du
ihn mal wegen eines Interviews fragen? Oder noch besser, mir seine Handy-Nummer
besorgen?“
Rabea funkelte ihn über den Tassenrand hinweg munter an. Lukas,
der sich soeben ein halbes gekochtes Ei in den Mund geschoben hatte,
verschluckte sich aufs heftigste ob ihrer Dreistigkeit. „Erstens“, ein
Hustenanfall unterbrach ihn, „nenne bitte den Generaloberen nicht Alter
Knabe und zweitens, nein, ich werde ihn ganz bestimmt nicht nach seiner
Prostata fragen oder wegen eines Interviews ansprechen. Ich glaube, du hast sie
nicht mehr alle“, entrüstete er sich. Erneut musste er husten und spuckte dabei
ein fingernagelgroßes Stück Ei aus. Es landete, leider, mitten auf Rabeas
Schoß.
„Mahlzeit“, kommentierte sie sein Missgeschick und zuckte
ungerührt mit den schmalen Schultern, während sie das Stückchen Ei mit spitzen
Fingern packte und in den Abfall beförderte.
Lucie
war vorsichtshalber hinter der Zeitung in Deckung gegangen und überließ die
beiden mit sichtlichem Vergnügen ihrem Geplänkel, als zum zweiten Mal an diesem
Morgen die Haustürglocke anschlug.
"Ich gehe schon",
rief sie eifrig und sprang auf.
Durch
die Gegensprechanlage kündigte sich eine jugendliche Stimme als weiterer Bote
an: "Guten Morgen. Ich
habe einen Umschlag für Pater von Stetten."
"O.k.
Komm rauf. Erster Stock links." Lucie, barfuß und ob ihres spärlichen
Aufzuges im Babydoll völlig unbekümmert, öffnete die Wohnungstür und quittierte
den Empfang des Umschlags, der mit altmodisch anmutender Handschrift an
"Pater Lukas von Stetten, SJ" adressiert war. Dem Boten, einem jungen
Grünschnabel in fleckigen Shorts, der sich mit Sicherheit noch nicht rasieren musste,
quollen bei ihrem appetitlichen Anblick beinahe die Augen über. Wahrscheinlich
wunderte er sich, mit wem der Pater da seine Wohnung teilte. Lucie steckte ihm ein
kleines Trinkgeld aus der Kristallschale auf der Konsole zu. Der Junge klappte
seinen Mund wieder zu, bedankte sich artig und hüpfte, einen aktuellen
italienischen Schlager pfeifend, die Treppe hinab. Lucie schloss die schwere Wohnungstür
und tappte zurück in die Küche. Sie wedelte mit dem Umschlag. "Hier Lukas. Für dich."
Lukas
griff nach dem Kuvert aus feinstem Büttenpapier und drehte ihn automatisch um: "Komisch.
Es ist kein Absender angegeben."
"Tja,
am besten du machst ihn auf", meinte Rabea, während sie näher an ihn
heranrückte und neugierig auf den Umschlag spitzte.
"Was
heißt das SJ hinter deinem Namen gleich noch mal?
Schlaue Jungs
, oder?",
zog sie ihn
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