Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Text ein Hinweis. Aber keiner der bemühten
Experten konnte einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der unvollendeten Predigt
und dem Tod des Bischofs herstellen. Sie waren sich nur über eines einig: dass
das „X“ entweder für die römische Zehn oder wie so oft als Synonym für ein
Rätsel oder ein Geheimnis stand; dass es eventuell das keltische Zeichen für
Mann und Frau bedeuten konnte, schlossen sie unisono aus und damit endete ihr
Latein. Was die Kryptologen nicht ahnen konnten: Die letzte Botschaft des
Bischofs war für eine einzige Person gedacht, seinen Neffen Lukas, der sich auf
seine dringende Bitte hin auf dem Weg zu ihm nach Bamberg befand. Bischof und
Neffe hatten während Lukas Kindheit eine Art von Geheimsprache benutzt, um Lukas
das Lernen zu erleichtern. So stand das "X" in ihrer gemeinsamen
Geheimsprache tatsächlich meist für ein Rätsel oder ein Geheimnis. Es hatte
aber auch noch eine weitere, viel trivialere Bedeutung gehabt: "Mund
halten!“ Dem jungen Lukas war des Öfteren das Herz übergesprudelt und er hatte
gerne lange Vorträge über meist christlich-mythische Themen gehalten. Der
Bischof hatte ihm dann durch ein einfaches Zeichen, dem Überkreuzen seiner
beiden Zeigefinger, mitgeteilt, dass es jetzt besser wäre aufzuhören. Obwohl
Lukas wusste, wofür das X stand, nützte es ihm keinesfalls, dessen Bedeutung zu
verstehen. Aber er glaubte ebenfalls nicht, dass der Bischof es nur zufällig
auf das Blatt gemalt hatte. Sein Onkel war ein Mann gewesen, der stets an eine
feste Bestimmung im Leben eines jeden Menschen geglaubt hatte und er hatte
diese letzte Botschaft seinem Neffen, den er ein Leben lang angeleitet hatte,
bestimmt nicht ohne Grund hinterlassen. Was wollte er ihm mitteilen? Dass er
von einem Geheimnis wusste, aber er, Lukas, den Mund halten sollte? Lukas
jedoch wusste von keinem gemeinsamen Geheimnis. So mündete jeder seiner
Gedanken in einer Sackgasse.
Es
würde noch eine Weile dauern, bis der junge Mann die wahre Bedeutung der
Botschaft begreifen würde. Und es würde ihn in arge Bedrängnis bringen.
Die
Boulevardpresse, sowohl die Print- als auch die digitalen Medien, hatten sich
wie Aasgeier auf die Nachricht des gewaltsamen Todes des populären Bischofs
gestürzt, allerhand Gerüchte und Spekulationen verbreitend - wie immer, wenn
die Umstände eines Todes nicht genau geklärt sind. Raubmord war scheinbar nicht
spektakulär genug, jedoch nicht einmal die Phantasie der Medien reichte
annähernd dazu aus, sich die ganze schreckliche Wahrheit auszumalen. Da sich
die Presse von einem langen Gedächtnis und einem noch besser sortierten Archiv
nährte, dauerte es nicht lange, bis die Berichte über den Tod des älteren
Bruders Alexander, dem Neffen des Bischofs, erneut ausgegraben wurden und beide
Geschehnisse zusammen medienwirksam ausgeschlachtet wurden. Lukas’ Bruder war
vor neun Jahren bei einem Lawinenunglück in den Schweizer Alpen umgekommen.
Ihre überaus empfindsame Mutter hatte dies nie verwunden und der Mord an dem
Bischof hatte sie erneut sehr mitgenommen. Der ganze Haushalt von Stetten
versuchte daher, sie zu schonen und alle Meldungen von ihr fernzuhalten – bis sich
eine Zeitung mit fetten Buchstaben erdreistete, im Zusammenhang mit dem
unglücklichen Tode des ältesten Sohnes und Erben der Unternehmensgruppe von
einem "Von-Stetten-Fluch" zu sprechen und Parallelen zu den Unglücksfällen
innerhalb der Familien Agnelli und den Kennedys herstellte. Diverse
Fernsehsender übernahmen die Story in ihre Boulevardprogramme und schließlich
wurde es unvermeidlich, dass Evelyn von Stetten über einen dieser
geschmacklosen Berichte stolperte. Lukas drängte nun seine
düsteren Gedanken gewaltsam zurück und wandte sich seiner Schwester zu. Mit
einem liebevollen Kuss auf ihre Wange meinte er: „Ist schon gut Lucie. Ich muss
jetzt gehen. Um zehn bin ich mit Pater Simone in der Via Nazionale verabredet.“
Er betrachtete sich ein letztes Mal in dem zum Ersatzspiegel
mutierten Toaster, murmelte „Ich glaube, es hat aufgehört“, warf den Eiswürfel
in die weiße Porzellanspüle und wusch sich schnell noch die Hände. Lucie
musterte ihn kritisch. „Ja. Sieht gut aus.“
Lukas war im Begriff, die Küche zu verlassen, als Lucie ihn
zurückhielt: „Warte, Lukas. Ich sage es nicht gerne, aber ich glaube, du musst
dich umziehen. Guck` mal in den Spiegel, aber diesmal bitte nicht in den Toaster“,
ergänzte sie, als sie sah, dass ihr Bruder Anstalten machte, sich
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