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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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der vor ein paar Tagen eine Maus für sie gefangen hatte, die er wie einen Schatz in einer Schachtel bei sich trug und jedem zeigte.
    Der Vater stocherte im Feuer. Er klaubte Holz zusammen und prüfte mit dem Messer, ob die Wildschweinschwarte zart geworden war.
    Margaret ging es nicht mehr aus dem Kopf, dass sie am Morgen Dick Dickens gesehen hatte, den Sohn des Kutschers. Ungewöhnlich früh. Er hatte den Hof überquert und war an der Flanke des Gänsestalls verschwunden, wo sich ein schmaler Gang befand, der vor einem alten Schuppen endete, den niemand mehr beachtete. Dort hatte Dick bestimmt das Briefchen hinterlegt, das sie von Andrew zu erhalten hoffte. Sie fühlte es. Sie fühlte ebenfalls, wie ihr Gesicht bei dem Gedanken glühend wurde.
    Ausgerechnet jetzt ließ Thomas von dem Feuer ab und marschierte auf sie zu. Er nahm seine Hausmütze vom Kopf und strich sich durch das angegraute Haar.
    »Ach, lieber Vater…«, sagte sie. Die eigene Stimme klang ihr fremd.
    Der Vater zog für einen Augenblick die Stirn in Falten. »Hast du Appetit?«
    »Ja, sicher«, zwang sie sich zu sagen.
    Er lächelte.
    Sie mochte ihn nicht ansehen, er würde sie sofort durchschauen.
    »Warum glaubt mir bloß niemand«, sagte er, »dass man mit der Gabel besser essen kann als mit den Händen?«
    »Ich würde mir bloß dauernd in die Lippen stechen«, meinte sie und schmunzelte. Sie rückte ein paar Messer und Löffel hin und her, lugte in die Wasserkanne, die eines der Mädchen pustend heranschleppte.
    »Wo bist du denn gestern gewesen?«, fragte Thomas.
    Margaret zuckte zusammen.
    Er wusste es. Natürlich!
    »Es war schon dunkel, und Raspale ist zu alt, um auf dich – aufzupassen«, sagte er. »Er würde dir nicht beistehen können, wenn etwas passiert.«
    »Was soll denn schon passieren, lieber Vater?«
    »Was andauernd passiert, Margaret. Die Stadt ist gefährlich. Er war doch bei dir, Raspale, oder etwa nicht?«
    Sie nickte verstohlen, ohne ihn anzusehen. Es tat ihr weh, zu lügen. Wie schlecht sie zu ihm war! Sie schämte sich vor Gott.
    »Wenigstens mit dir kann ich mich glücklich schätzen«, fügte er hinzu, »dass du mich nie belügen würdest, oder nicht?«
    Margaret nickte.
    Sie stand da und hätte sich am liebsten selber ins Gesicht geschlagen, hier vor all den Menschen, die sie liebte, die ihr vertrauten und die sie aus Angst belog, verletzte.
    Thomas drehte sich zur Seite, redete mit William Gills.
    Margaret versteckte ihr Gesicht und ging nach draußen, wo ihr die Stiefmutter entgegenkam.
    »Was ist? Du schaust so komisch.«
    »Ich bin gar nicht Ihren Blick wert, liebe Stiefmutter…«
    »Was redest du denn da?«, sagte Alice. »Lass uns hineingehen, das Essen wird jetzt aufgetragen.«
    Die Tür stand offen, der Lärm flutete heraus, die vielen Stimmen, Rufe, Lachen.
    Fast alle saßen schon. Thomas wartete, bis Lady Alice und Margaret Platz genommen hatten.
    »Wir wollen beten.«
    Es wurde still.
    Er betete sehr leise, wie er es immer tat.
    Margaret hörte seine tiefe Stimme. Sie schämte sich so sehr. Sie hatte ihn mit ihrer Liebe, die sie für Andrew fühlte, nur enttäuscht. Sie kam sich mit einem Mal verwöhnt und undankbar vor, arrogant und besserwisserisch.
    Thomas schlug das Kreuz und gab das Zeichen. Sofort kam Leben auf. Der erste der Fasane wurde angereicht, es duftete nach Thymian und Pfeffer.
    »Sie sind so still, Margaret…?«
    Es war William Gills, der sie fragte. Er saß zwischen ihr und Thomas.
    »Ach!«, sagte sie verlegen. »Nein.«
    »Doch.«
    »Ein bisschen Kopfweh«, log sie und hoffte, er würde sie in Frieden lassen.
    »Haben Sie vom jüngsten Todesfall gehört?«, fragte er leise, während er sein Fleisch klein schnitt.
    Margaret wurde bleich, sie fühlte es.
    »Es sind gewisse Schüler«, flüsterte er. »Sie betäuben sich mit Pilzen und mit Rinden, sagt man. Der Glaube stirbt zuerst.«
    Sie mochte Gills gar nicht anschauen.
    Er redete weiter auf sie ein. »Sie selbst haben nichts zu befürchten, Miss Margaret. Nicht in diesem Haus. Ihr Vater ist der beste Halt, den wir uns wünschen können. Niemals würde Gott dies Haus verlassen.«
    Sie sah ihn erschreckt an. »Wie kommen Sie darauf, William, dass Gott uns je verlassen könnte?«
    »Die Seelenpest, Miss Margaret!«
    Sie starrte auf das Fleisch auf ihrem rot getränkten Brot. Es blutete!
    »Verzeihung, ich…« Sie wollte aufstehen.
    Thomas lehnte sich herüber und sah sie überrascht an.
    »Du bist so ruhelos, Megge! Ich kenne dich nicht

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