die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
anderen Seite mochte die Traurigkeit seiner Freundin ihn ein letztes Mal anlocken.
Der Gesang verhallte. Als Coranna sich auf dem Teppich ausstreckte, sicherte Rhia die Trommel zwischen den Knien und begann einen leichten Rhythmus in dem Tempo zu schlagen, das auch Marek gewählt hatte, als sie selber gestorben war.
Coranna lag einige Minuten reglos da. Ihre Augen bewegten sich hinter geschlossenen Lidern. Plötzlich versteifte sich ihr Rücken, und sie legte die Hände auf die Ohren, als wollte sie ein lautes Geräusch aussperren. Dann senkte sie die Hände wieder.
„Ich habe ihn gefunden”, flüsterte sie, und dann nahm ihre Stimme einen strafenden Unterton an. „Etar, warum bist du hier? Elora sagt, dein Enkelkind wird gesund und kräftig, genau wie seine Mutter. Du solltest uns jetzt verlassen.”
„Ich will Gerechtigkeit für meinen Tod”, sagte eine Stimme, die aus Corannas Mund kam, aber nicht wie ihre klang. „Ich war nicht krank, jedenfalls habe ich das nicht bemerkt.”
Rhia zuckte auf den Vorwurf hin zusammen. Sie hätte ihm die Antwort geben können, wenn sie in jener Nacht in ihn geblickt hätte.
„Ich glaube, ich bin vergiftet worden”, behauptete Etar. „Ein junger Mann hat mir einen Becher Meloxa gereicht. Skaris, der Bär.”
Rhia unterdrückte ein Keuchen. Mareks Freund, der Bruder seiner verstorbenen Partnerin.
„Warum sollte Skaris dich umbringen wollen?”, fragte Coranna. „Er ist zu jung, um deinen Platz im Dorfrat einzunehmen.”
Etar zögerte. „Vielleicht hat ihn jemand darum gebeten.” Fast vergaß Rhia zu trommeln. Sie wusste, wer geholfen hatte, in jener Nacht die Speisen und Getränke zu richten. Entgegen Corannas Anweisungen erhob sie die Stimme. „Razvin hatte die Gelegenheit. Ich glaube, er hat mich beobachtet, als ich mit Euch gesprochen habe.”
Etar schwieg einen Augenblick. „Ich habe Razvin gesagt, dass ich dich bitten würde, meine restliche Lebensdauer einzuschätzen, und er hat um einen Monatsvorrat Meloxa gewettet, dass du es nicht tust.”
Beleidigt schaltete sich Coranna ein: „Du hast auf die Zuverlässigkeit meines Lehrlings gewettet? Ich habe von euch beiden mehr Ehrfurcht erwartet.”
„Nein, hast du nicht”, sagte Etar. „Rhia, als Razvin dich beobachtete, hat er sich vielleicht gefragt, ob er seinen Wettgewinn einsammeln kann.”
Rhia verkniff es sich, zu widersprechen. Vielleicht hatte sie den Fuchs deswegen so scharf verurteilt, weil er ihre Mutter verlassen hatte. Wenn sie zuließ, dass die Vergangenheit ihr Urteilsvermögen beeinflusste, konnte sie Etar nicht bei der Suche nach Gerechtigkeit helfen.
„Fang mit Skaris an”, sagte Etar.
„Werden wir”, antwortete Coranna sanft. „Bitte vertrau darauf, dass wir tun, was richtig ist, und geh jetzt.”
„Nein.” Etars Geisterstimme presste sich aus ihrer Kehle. „Coranna, lass mich nicht ziehen.”
Ihr Körper verkrampfte sich. „Du musst. Flieg mit Krähe, Etar. Finde deinen Frieden.”
„Ich kann dich kaum noch sehen.” Seine Worte wurden leiser. „Als würde ich durch einen Nebel blicken.”
Eine Träne rann aus dem äußeren Winkel von Corannas Auge. „Geh”, flüsterte sie.
Mit einem Abschied, den Rhia spüren, aber nicht hören konnte, verschwand Etar von dieser Welt. Coranna drehte sich auf die Seite. Tränen fielen auf den Teppich unter ihr, und sie zog wie ein Kind die Knie an die Brust.
Rhia hörte auf zu trommeln und hasste sich dafür, dass sie an Corannas Gefühlen zweifelte.
Von der Leiter draußen kam ein Rascheln. Einen Augenblick später klingelte es, und Rhia öffnete die Tür. Alanka stand davor.
„Guten Morgen!”, sagte das Wolfmädchen.
Rhia rieb sich die Augen. „Waren wir verabredet?”
„Jetzt sind wir es. Thera bekommt ihr Kind.”
Rhia blickte Coranna an, die sich langsam aufsetzte, und dann Alanka. „Und?”
„Und wir müssen dabei sein.” Coranna stand auf und ging auf die Tür zu. „Bist du sicher, dass das Kind kommt?”
Alanka nickte. „Ich habe so lange damit gewartet, euch zu wecken, bis wir sicher waren. Kerza und Elora sind schon dort.” Sie machte eine Handbewegung, die zur Eile antrieb. „Es kommt schnell.”
„Das ist ein Segen”, knurrte Coranna und deutete dann auf Rhias Kleiderhaufen. „Zieh dir etwas anderes an. Es wird eine Schweinerei.”
„Ich sage ihnen, dass ihr auf dem Weg seid.” Alanka eilte die Leiter hinab.
Rhia schloss die Tür und beeilte sich, die Kleider zu wechseln. „Sind Thera und
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