die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
die sein Bett waren, und spürte, wie er sich neben ihr ausstreckte.
Marek fuhr mit einem Finger an ihrem Kiefer entlang. „Du bist heute Nacht sehr mutig gewesen.”
„Das war ich nicht. Ich hätte mich fast übergeben. Es war schrecklich, zu sehen, wie die Flammen ihn verschlingen. Du musst wohl daran gewöhnt sein.”
„Nein. Ich habe noch nicht so viele Verbrennungen gesehen. Kinder sehen nicht zu. Der Anblick und der Geruch können einem herrliche Albträume bereiten.”
Sie berührte seine Brust und spürte den Schlag seines Herzens. Der gleichmäßige Puls unter ihrer Handfläche beruhigte sie. „Hast du gesehen, wie es mit deinen Eltern geschehen ist?”
„Nein. Das Feuer, das sie umgebracht hat ...” „Natürlich.” Sie schämte sich für ihre Taktlosigkeit. „Es tut mir so leid.”
„Muss es nicht. Damals war ich wie betäubt. Ich konnte es nicht glauben. Wir haben damals viele Menschen verloren. Aber alles, woran ich denken konnte, war, wie erleichtert ich war und wie viel Glück ich hatte, verschont worden zu sein. Wenn so etwas passiert, fühlt man sich schuldig, überlebt zu haben, aber insgeheim ist man auch froh, zu leben und die Gelegenheit zu haben, überhaupt etwas zu fühlen.”
Sie sprachen nicht mehr, denn in diesem Augenblick mussten sie alles empfinden, was sie von den Toten unterschied. Als sie sich liebten, versuchte Rhia, sich jeden Stoß, jedes Beben, jedes Seufzen einzuprägen, als könnte ihre Erinnerung sie beide für immer am Leben erhalten.
Später, nachdem Marek eingeschlafen war, blieb sie noch lange wach, obwohl auch sie müde war. Doch jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, tanzten, leckten und nagten Flammen auf den Innenseiten ihrer Augenlider, deren Hunger nach Fleisch noch lange nicht gestillt war.
Deshalb lag sie in der Dunkelheit da, hörte zu, wie Marek atmete, und staunte über das Wunder jedes Atemzuges.
„Werde nie zu Asche”, flüsterte sie ihm zu.
Auf dem Waldboden unter ihr tanzten und sangen die Kalindonier trotzig weiter.
29. KAPITEL
D ie Sonne ging auf, und Rhia erhob sich. Um Ma-K I rek warm zu halten, deckte sie ihn sorgfältig zu und schlüpfte dann ohne einen Laut nach draußen. Im nahen Dorfzentrum ging die Totenwache weiter.
Coranna regte sich, als Rhia die Tür zu ihrem Haus öffnete. „Hab mich schon um Etars Asche gekümmert”, murmelte sie. „Wir müssen den Scheiterhaufen neu errichten, aber das kann warten. Geh wieder schlafen. Oder was du auch machst, mach wenigstens keinen Lärm.”
Rhia schloss die Tür lauter als notwendig. „Du hast gesagt, wir treten heute mit Etar in Verbindung.”
Coranna öffnete ein Auge, um Rhia böse anzufunkeln. „Ich bin gerade zu Bett gegangen.”
„Ich koche etwas Zichorie, um dich aufzuwecken.” Entschlossen trat Rhia an den Herd. „Ich kann auch Wasser für ein Bad erhitzen, wenn du magst.”
„Ich fühle mich selber halb tot”, erwiderte Coranna stöhnend. Ohne sich vom Herd umzudrehen, antwortete Rhia: „Dann sollte es dir nicht schwerfallen, ihn zu erreichen.”
Nach einem langen Schweigen erklärte Coranna: „Zichorie wäre gut.”
Sie ließen das Frühstück ausfallen. Nachdem Coranna sich in ein lockeres, schlichtes Kleid gekleidet hatte, trat sie ans Regal und nahm eine kleine Schachtel aus poliertem dunklen Holz heraus. Sie zog ein Bündel aus braunem Stoff hervor und wickelte es aus. Darin befand sich ein dicker Stab aus eng gebundenen Blättern.
„Was ist das?”, fragte Rhia.
„Nichts für Lehrlinge jedenfalls. Es hilft, diese Welt hinter sich zu lassen. Würdest du für mich trommeln? Fang an, wenn ich den Gesang beendet habe. Schweig, es sei denn, ich bitte dich, zu sprechen.”
Rhia nahm die Trommel und setzte sich an den Rand ihres Bettes. Coranna kniete sich auf den dicken grünen Teppich zwischen den Betten und zündete dann den Kräuterstab an. Das berauschende Aroma schien den Raum in Rhias Kopf anschwellen zu lassen, und sie biss sich auf die Unterlippe, um sich zu zwingen, bei der Sache zu bleiben.
Coranna begann zu singen – ein hoher, kehliger Laut entrang sich ihrer Kehle, der Rhia kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Es war Klage und Lockruf zugleich, und in ihm lagen all die Leiden einer Frau, die ihren Freund verloren hatte. Sie hatte Rhia gesagt, man musste Abstand halten vom Schmerz der anderen, aber ihre Gefühle stoben wie Funken durch die Luft. Vielleicht war es sogar die Trauer selbst, die Etar rief. Trotz der Wunder der
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