Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

Titel: die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeri Smith-Ready
Vom Netzwerk:
Weiß. Sie wurde immer verwirrter. War sie bereits tot? War die andere Seite hinter dieser Wand?
    Etwas neben ihr regte sich.
    „Es ist spät”, murmelte eine vertraute Stimme.
    Sie drehte sich um und sah dort einen schläfrigen Marek. Sofort holte sie die Wirklichkeit wieder ein. Sie liefen vor ihrem Schicksal davon.
    Ohne zu antworten, kroch sie über ihn hinweg und stieß die Tür auf. Frischer Schnee bedeckte das Flussufer, und die helle Morgensonne blendete sie aus allen Richtungen. Ihr Magen fühlte sich schwer und sauer an.
    Mit der Hand beschattete sie sich die Augen und stolperte nach draußen. Die erschreckte Krähe hüpfte davon und schlug mit den Flügeln, um schneller zu entkommen. Am Rand des eisigen Flusses warf sie Rhia einen vorsichtigen Blick zu und beachtete sie dann nicht weiter.
    Keine anderen Vögel hatten sich in den spröden Morgen hinausgewagt. Rhia erinnere sich an stickige Sommernachmittage, an denen nur die Krähen die Hitze ignorierten und nicht zuließen, dass das Wetter ihre Pläne durchkreuzte. An stürmischen Tagen ließen sie sich im Wind herumwirbeln und tanzten, statt sich schützend in ihre Nester zu ducken.
    Sie flogen durch die Welt, als könnte ihnen nichts etwas anhaben.
    Marek erschien an der Tür. Er rieb sich die Augen und sagte: „Wir sollten uns das Kanu ansehen.”
    „Ich kann nicht.” Rhia bemerkte, dass sie sich auf den schneebedeckten Boden gesetzt hatte. „Ich kann nicht davonlaufen, Marek.” Sie bedeckte die Augen. „Aber ich kann auch nicht zurück. Ich habe solche Angst.”
    „Ich weiß. Ich habe auch Angst.” Er kniete sich neben sie. „Ich kann dich nicht verlieren.”
    Im Spiegel seiner Angst kam Rhia sich plötzlich wie ein Kind vor. Wenn sie jetzt davonlief, würde sie immer bleiben, wie sie war, lebendig, aber unvollständig, ohne Vertrauen in ihren Geist und die eigenen Kräfte. Wie Marek.
    Der Pfad, auf dem sie sich bewegte, war ihrer, nicht der von Krähe. Nur sie selbst hatte die Macht, beides in sich zu vereinen.
    Sie nahm, was sich wie der tiefste Atemzug ihres Lebens anfühlte. „Bring mich zurück.”
    Marek starrte sie so lange an, dass bereits der Nachmittag hereinzubrechen schien. Sein Zögern machte sie wahnsinnig. Würde er sich weigern? Ohne ihn würde sie niemals den Weg zurück nach Kalindos finden, schon gar nicht zum Berg Beros.
    Seine Augen wurden feucht. Er sah auf ihre Hände hinab und umschloss sie fest mit seinen eigenen. „Gehen wir.”
    Das Frühstück war kalt, die Luft noch kälter. Rhia und Marek aßen im Gehen. Ihr taten die Beine weh, doch nach etwa einer Stunde Bewegung ließ der Schmerz ein wenig nach.
    Sie gingen bergauf, was Rhia verwirrte.
    „Kehren wir nicht nach Kalindos zurück?”, fragte sie ihn. Sein Gesicht war steinern. „Wir gehen in die Berge.”
    „Wie lassen wir Coranna wissen, dass wir uns dort treffen?” „Sie weiß es bereits.” Er biss die Zähne aufeinander. „Sie wusste, dass du davonlaufen wirst, und sie wusste, dass du deine Meinung wieder änderst. Hat es jedenfalls gehofft.” Er sah sie an. „Sie hat darauf vertraut, dass du zurückkehrst, und mir vertraut, dass ich dich zurückbringe.”
    Er musste nicht hinzufügen: Fast hätte ich es nicht getan. Rhia verstand sein Zögern, denn sie teilte es. Ihre Weihung hatte sie bis ans Ende ihrer geistigen und körperlichen Kräfte gebracht, und sie hatte überlebt, war dadurch sogar stärker geworden. Aber die Weihung war nicht der Tod. Ihre Lungen schmerzten, als rangen sie um den letzten Atemzug.
    Ihr Verstand suchte verzweifelt nach Ablenkung. Sie registrierte, wie die Bäume hier niedriger und weniger dicht wuchsen und wie der Schnee trockener war und bei jedem Schritt knirschte.
    Diese Beobachtungen betäubten ihre Gedanken, bis sie und Marek sich daranmachten, den bisher steilsten Abhang zu erklimmen. Sie hielten sich an Wurzeln und Steinen fest und mussten ihre Handschuhe ausziehen, um sicher greifen zu können.
    Endlich verflachte sich der Abhang zu einer Lichtung, die sich in den Schatten des Berges zu ducken schien, dessen fernen Umriss Rhia schon ihr ganzes Leben lang kannte.
    Die silbrig weiße Spitze des Berges Beros ragte gezackt und erbarmungslos in den Himmel. Eine frische Lage Schnee bedeckte dünn wie gestäubtes Mehl die Lichtung. Winzige violette Blüten steckten die Köpfe durch den Schnee, aber statt Fröhlichkeit zu verbreiten, betonten sie noch die Kargheit der Landschaft.
    Rhia blickte über die Lichtung zum Fuß

Weitere Kostenlose Bücher