die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
umbringen.
„Hier ist der Plan.” Marek biss ein Stück Fleisch ab und kaute einen Augenblick. „Wir nehmen das Kanu den Fluss hinab bis Velekos. Corannas letzter Lehrling lebt dort. Vielleicht kann er dich ausbilden.”
Noch eine Krähe! Vielleicht konnte sie doch noch ihre Pflicht erfüllen. „In welcher Phase ist er?”
„Er könnte inzwischen schon in der zweiten Phase sein.” „Oh.” Rhia biss sich auf die Lippen, die vor Kälte und Angst schon ganz wund waren. Sie musste nicht sterben. Aber konnte dieser Krähenmann ihr alles beibringen, was sie wissen musste?
„Andererseits”, sagte Marek, „wenn er in die zweite Phase eintritt, müsste er zurückkommen, um sich erneut bei Coranna ausbilden zu lassen.” Er nahm noch einen Bissen. „Aber vielleicht kann er dir trotzdem helfen.”
Rhia antwortete nicht. In ihrem Mund fühlte sich das Fleisch staubtrocken an.
„Ich kann auf einem der Fischerboote in Velekos Arbeit finden.” Er legte ihr einen Arm um die Schultern. „Wir kommen schon zurecht.”
Sie nickte, ohne überzeugt zu sein. In Velekos wäre sie am Leben, aber was wäre sie außerdem? Konnten ihre Krähenkräfte die Sterbenden trösten, wenn sie selbst immer noch Angst vor dem Tod hatte? Wie konnte sie ihnen versichern, dass auf der anderen Seite Schönheit und Frieden warteten, wenn sie nie selbst dorthin gereist war?
Man würde ihre Lügen durchschauen. Die Sterbenden würden ihre Angst nicht verlieren.
Und sie selbst auch nicht.
Marek drehte ihr Kinn zu sich. Sie spürte, wie intensiv sein Blick war, als suchte er in ihrem Gesicht nach etwas, das er fürchtete.
„Was ist los?”, fragte sie ihn.
Heiser flüsterte er in der Dunkelheit ihren Namen. Plötzlich küsste er sie, fest und mit einem Verlangen, das ihre Lust weckte und ihre Furcht auslöschte. Vergangenheit und Zukunft verschwammen, als sie sich ganz dem Augenblick und dem Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper überließ. Ob es richtig war oder falsch – es war das Leben, etwas, nach dem sie sich schamlos sehnte.
Sie umarmten einander voll reinem, nacktem Verlangen, das mehr war als nur eine Vereinigung zweier Seelen. Rhia wollte es Liebe nennen, aber das war unmöglich. Liebe war freundlich und schön und gab immer mehr, als sie nahm. Was zwischen ihr und Marek bestand, verbrannte alles, was in seine Nähe kam, und sie fragte sich, was danach wohl noch bleiben würde.
Trotz der Kälte – oder vielleicht gerade deswegen – legten sie all ihre Kleidung ab. Rhia musste jeden Zentimeter seiner Haut an ihrer spüren. Sie lagen einander zugewandt auf seinem ausgebreiteten Mantel. Mit dem Finger zeichnete Rhia die Umrisse von Mareks Gesicht nach und weinte fast vor Verlangen, ihm in die Augen zu sehen.
Plötzlich tauchte er auf und sah sie mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und diesem Gefühl, das sie nicht Liebe nennen wollte, an.
Erstaunt keuchte sie auf, und er verschwand wieder.
„Ich habe dich gesehen”, sagte sie.
„Es hat funktioniert?”
Sie nickte.
„Deinetwegen”, erklärte er.
Staunend berührte er sie, als wollte er sich jeden Teil ihres Körpers einprägen. Sein Mund und die Hände waren warm, als er ihren Körper erkundete, und jeder Kuss und jede Berührung hinterließen eine brennende Spur.
Rhia sehnte sich nach Erlösung, die kam, sobald er in sie eindrang. Sie konnte seinen Blick spüren, als sie aufschrie.
Hinterher klammerten sie sich aneinander. Ihre Glieder zitterten in der Kälte und vor Erschöpfung, ehe sie sich endlich voneinander lösten, um sich schnell anzuziehen und sich in alle Decken zu wickeln, die sie mitgebracht hatten.
„Ich kann nicht zulassen, dass du deine Heimat für immer verlässt”, flüsterte sie. „Das kann ich dir nicht antun.”
Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Hör mir zu. Mit dir fühle ich mich lebendiger und männlicher als jemals zuvor. Du kannst mir meine Heimat nicht nehmen, Rhia. Du bist meine Heimat.”
Da ihr die Worte zu einer Antwort fehlten, zog sie ihn nur an sich. Sie verlangte nach seiner Wärme, denn die schien die einzige Quelle des Lebens in dieser harten Welt zu sein.
Als sich der Schlaf langsam auf sie herabsenkte, kam ihr der Gedanke, dass Marek sie geliebt hatte, als wäre es das letzte Mal gewesen.
Eine Krähe riss Rhia aus dem Schlaf. Ruckartig setzte sie sich auf und stieß sich dabei fast den Kopf an einer hervorstehenden Planke.
Der Vogel rief noch einmal. Durch die Lücken im Holz sah Rhia nichts als
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