Die Sehnsucht der Konkubine
der Regel war es vielmehr der Nachname oder die Nummer. Nichts, das etwa so respektvoll war wie Genossen. »Heute haben wir die große Ehre eines Besuches unserer Genossen von der Kommunistischen Partei Chinas.« Er nickte dem älteren Mitglied der Gruppe zu, einem Mann mit eisengrauem, kurz geschnittenem Haar und einem tief zerfurchten Gesicht, das keinerlei Regung verriet. Doch Jens bemerkte, wie Tursenows Augen ganz kurz zu dem großen, jungen Chinesen schwenkten, der hinter ihm stand, und bei ihm verweilten. Als wäre das der Mann, von dem wirklich die Macht – oder vielleicht auch die Schwierigkeiten – ausgingen.
»Genosse Li Min, das hier sind unsere führenden Arbeiter«, verkündete er, an den älteren Chinesen gerichtet, und wies auf die gefügig strammstehende Gruppe Männer und Frauen, so wie vielleicht ein Bauer stolz seine Schweine vorgeführt hätte. »Alles erstklassige Wissenschaftler.«
»Ihr habt gut daran getan, solche Fähigkeiten und Kenntnisse zu bündeln.« Gesprochen hatte der ältere Besucher, der offenbar fließend Russisch konnte. »Sie müssen sich zutiefst geehrt fühlen, für den Sowjetstaat und euren großen Anführer Stalin tätig sein zu dürfen.«
»Das sind sie ganz gewiss.«
Geehrt? Eine Frage, deren Beantwortung keinem der Gefangenen besonders am Herzen lag.
»Wir werden jetzt die Arbeitsräume unten besichtigen«, kündigte Tursenow an.
Nein, in meinem Arbeitsraum habt ihr nichts zu suchen.
Der Oberst wusste sehr wohl, wie sehr sie es alle hassten, wenn unkundige Finger sich an ihren Papieren zu schaffen machten oder sie sogar verschwinden ließen. Doch er bestand darauf. Nur, um sie daran zu erinnern, was sie waren und wie wenig sie bedeuteten.
»Zuerst möchte ich mit ihnen sprechen.«
Alle schauten zu dem großen, jungen Chinesen, der das Wort ergriffen hatte, und Oberst Tursenow verzog vor Unbehagen das Gesicht. Um höflich zu sein, musste er Ja sagen. Doch wenn er keinen Fehler machen wollte, kam nur ein Nein infrage. Jens beobachtete, wie er diesen inneren Konflikt mit sich austrug, und war nicht überrascht, als der Chinese sich von der Gästegruppe löste und mit langen Schritten auf die Arbeiter zuging, als hätte ihm der Oberst bereits dazu die Erlaubnis gegeben. Die Entschlossenheit dieser Geste brachte Jens zum Lächeln, als ihm einfiel, was dem Oberst jetzt wohl durch den Kopf ging. Der Besucher nahm an einem Ende ihrer Reihe Aufstellung und betrachtete sie.
»Das sind alles Gefangene, richtig?«
» Da . Aber bitte keine Namen, in Ordnung?«
Der Oberst begann den Rest der Delegation in Richtung Tür zu führen, in der Hoffnung, dass der Abtrünnige ihnen folgen würde. Doch der junge Chinese schien es gar nicht zu bemerken. Seine dunklen Augen wanderten über jedes Gesicht der fünf männlichen Gefangenen, während er die Frauen vollkommen ignorierte. Als sein Blick auf Jens ruhte, stand eine Frage darin, doch Jens konnte nicht recht ausmachen, was er im Sinn hatte. Dieser junge Mann löste einen Tumult in ihm aus, aber zugleich erregte ihn seine Anwesenheit auch. Auf einen Schlag wurde ihm bewusst, was es war: Er stand einem Menschen gegenüber, der einen unabhängigen Verstand besaß, einen, der sich von einem totalitären Staat noch nicht seine innere Komplexität hatte nehmen lassen. Jens hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte, und diese unerwartete Herausforderung zauberte ihm ein Lächeln auf die Lippen. Der Chinese kam auf ihn zu, blieb aber zunächst vor Iwanowitsch stehen, der neben Jens stand, einen Mann, der fast genauso groß war wie er selbst.
»Sie da«, sagte er und richtete den Blick voll auf Iwanowitschs Gesicht. »Was tun Sie?«
»Genosse Chang«, platzte Tursenow heraus, »solche Einzelheiten können hier nicht erörtert …«
»Ich frage nicht, woran er arbeitet. Nur, welchen Beruf er hat.« Die schwarzen Augen richteten sich auf den Oberst, und es trat eine Pause ein.
»Sehr gut«, sagte Tursenow mit einer Höflichkeit, die gespielt wirkte, und nickte Iwanowitsch zu.
»Ich bin Sprengstoffexperte«, sagte der Gefangene mit einem Unterton.
Jens sah, wie das Interesse in den schwarzen Augen wieder verebbte, ähnlich den Wellen am Strand, die sich zurückziehen und nichts übrig lassen.
»Und Sie? Was ist Ihre Arbeit?«
Jens schaute zu Tursenow. Erhielt ein Nicken.
»Ich bin Ingenieur.«
Der Chinese gab dazu keinen Kommentar ab, sondern holte nur tief Luft und nahm Jens ins Visier, betrachtete sein Gesicht, seine
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