Die Sehnsucht der Konkubine
Kleidung, als wollte er sich alles genau einprägen. Plötzlich ärgerte sich Jens über diese ausführliche Musterung durch den Fremden. Er wandte den Blick ab.
»Ich bin Ingenieur«, wiederholte er knapp, »und kein Zootier.«
»Sind Sie gut?«
»Ich bin der beste. Deshalb bin ich hier.«
Ohne es zu wollen wanderte sein Blick zu dem Chinesen zurück, und etwas in den schwarzen Augen hatte sich verändert. Irgendwo ganz tief in seinem Inneren war ein Lachen. Wer auch immer dieser Mann war, er hatte die Welt von draußen in diesen erstickenden Kerker gebracht.
»Und Sie, Genosse Chang«, sagte Jens mit einem kleinen Lächeln, »sind Sie auch der Beste in dem, was Sie tun?«
»Schnauze, Gefangener«, fauchte Tursenow von der anderen Seite der Halle aus.
»Das werden Sie sehen«, antwortete Chang.
Und dann überraschte er Jens damit, dass er die Hand ausstreckte und ihn an der Brust berührte. Nur ein kurzes Tätscheln, nicht mehr. Trotzdem war der körperliche Kontakt wie ein Schock. Im nächsten Moment war die große, schlanke Gestalt verschwunden. Nur als er durch die Tür ging, schaute er noch einmal über die Schulter zurück, womit Jens gerechnet hatte. Ihre Blicke begegneten sich, dann war der Moment vorüber. Die Tür ging zu, die Gefangenen entspannten sich und fingen an, sich darüber zu beklagen, dass wieder einmal jemand in ihren Arbeitsbereich vorgelassen worden war.
»Alles in Ordnung mit dir, Jens?«, fragte Olga. Ihre Augen waren voller Sorge. »Du siehst blass aus.«
»In diesem Loch sind wir doch alle blass«, sagte er wütend. »So blass, dass wir unsichtbar sind.«
»Reg dich nicht auf, Jens. Sie behandeln uns vielleicht wie Zootiere, aber wir sind immer noch am Leben.«
»Ist das hier ein Leben?«
»Solange dein Herz noch schlägt, ist es ein Leben, ja.«
Er führte die Hand an seine Brust und lächelte sie an. »Dann bin ich wirklich noch am Leben, denn es schlägt wie ein Schmiedehammer.«
»Das freut mich. Sorg dafür, dass das auch so bleibt.«
Sie schenkte ihm einen liebevollen Blick und wandte sich ab, weil jemand von den anderen ihr eine Frage gestellt hatte. Jens steckte blitzschnell die Hand in das Revers seiner Jacke und fand darin den Zettel, von dem er gewusst hatte, dass er dort sein würde.
Jens Friis,
ich bin ein Freund Ihrer Tochter Lydia. Sie ist hier in Moskau. Jetzt, da ich weiß, wo Sie sind, werde ich sie informieren. Achten Sie darauf, ob jemand Kontakt mit Ihnen aufnimmt.
Jens saß auf seinem Bettende, über die Nachricht gebeugt, um sie vor neugierigen Augen zu schützen. Er las sie noch einmal, wohl zum tausendsten Mal, bevor er sie in winzige Stücke riss, die in seinem Schoß lagen wie Konfetti. Als er die Fetzen wirklich nicht mehr kleiner machen konnte, legte er sie einen nach dem anderen auf seine Zunge und begann sie hinunterzuschlucken. Seine Hände zitterten.
Lydias Gesicht fühlte sich steif an. Sie lächelte, und die Muskeln ihrer Wangen bewegten sich noch, während sie sprach, aber nur ganz leicht. Sie musste sie dazu zwingen. Immer wieder wanderte ihr Blick zu den kraftvollen Zügen von Dmitri Malofejews Gesicht zurück, der neben ihr saß und seinen Kaffee trank, und sie fragte sich, wie sie es eigentlich schaffte, ihren eigenen Kaffee in der Tasse zu behalten, statt ihn ihm ins Gesicht zu schütten. Er wusste, wo ihr Vater festgehalten wurde. So viel hatte er seiner Frau gegenüber zugegeben. Doch er weigerte sich zu sagen, wo.
»Lydia, kann ich dir noch einen anbieten?«
Es war Alexej, der sprach. Er saß ihr gegenüber am Tisch.
»Natürlich, spassibo . Die sind so gut.«
Ihr Bruder reichte ihr die mit Goldrand verzierte Platte mit winzigen Kuchen, die allesamt mit Glasur überzogen und mit einer Kirsche verziert waren. Sie dankte ihm mit einem Nicken, doch das galt nicht den Kuchen. Er warnte sie. Dmitri hatte ihren Blick bemerkt und reagierte darauf mit wachsamer Neugier.
»Iss nur alle, mein liebes Mädchen«, ermunterte er sie. »Damit du mal ein bisschen Fleisch auf deine hübschen Knochen bekommst.«
»Danke.«
Sie nahm ein weiteres Törtchen in die Hand und lächelte ihn an, ließ die Leckerei jedoch unberührt. Hätte sie hineingebissen, wäre sie daran erstickt. Diese ganze Sache war Dmitris Idee gewesen. Sie alle zu einem morgendlichen Kaffee in dieses schicke Hotel zu bringen statt in seine Wohnung, wie Antonina es vorgehabt hatte. Seine Hand ruhte ganz leicht auf der seiner Frau, die auf dem Tisch lag, was trotzdem so
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