Die Sehnsucht der Konkubine
zwar in mehr als nur einer Hinsicht.«
Liew lachte so dröhnend, dass die Fensterscheibe endgültig herausfiel.
Zimmer waren rar gesät. Aus allen Teilen des Landes strömten Menschen in die Hauptstadt. Lydia war erstaunt über ihre große Anzahl, und sie alle brauchten eine Unterkunft. Sie hatte sie beobachtet, wie sie die Straßen auf und ab gingen, die ganze Krasnoelskaja entlang, mit nur einer Decke unter dem Arm, einem Paar Stiefel oder einem Sack mit Werkzeug über der Schulter, eben allem, was man zu Geld machen oder gegen Lebensmittel eintauschen konnte. Sie hatte gelernt, die Leute vom Land von den Städtern zu unterscheiden. Es waren nicht nur ihre selbst gewebte Kleidung und ihre grobknochigen Hände, sondern auch die Verwirrung in ihren Augen. Sah man diesen Ausdruck auch in ihren eigenen Augen? Diese Ungewissheit? Diese Nervosität? Diese Verlorenheit?
»Warum haben die alle ihre Dörfer verlassen?«, fragte sie Elena, als sie mal wieder mit ihren Lebensmittelkarten Schlange standen.
»Was glaubst du denn? Die verhungern da draußen auf den Kolchosen, und hier, heißt es, gibt es Arbeit.«
»Das muss auch stimmen, denn die Fabriken schießen aus dem Boden wie die Pilze. Das ist ein Teil von Stalins Fünfjahresplan.«
»Genau.« Elena senkte ihre Stimme. »Aber das sind Bauern, meine Güte, und sie haben nicht den blassesten Schimmer, wie man eine Maschine bedient. Wenn die den An- und Ausschaltknopf bedienen können, kann man schon froh sein.«
»Werden sie denn nicht ausgebildet?«
»Wenn du es Ausbildung nennst, dass man einen Finger verliert, ja. Wenn du erst mal einen weniger hast, wirst du den gleichen Fehler nicht noch mal machen.«
»Woher weißt du das alles?«
Manchmal erstaunte es Lydia, wie viel diese Frau wusste. Bislang hatte sie nur wenig über Elenas Leben erfahren, außer, dass sie einmal ein Kind gehabt hatte und Prostituierte gewesen war.
»Das ist wirklich das Einzige, was ich kann«, hatte Elena eines Abends kichernd gesagt, als sie an einer Prostituierten vorbeigekommen waren, die auf der Straße herumschlenderte. Sie hatte Lydia genüsslich auf den Rücken geklopft. »Komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Niemand würde so ein mageres Etwas wie dich nehmen.«
»Das stimmt nicht«, hatte Lydia erwidert.
Elena hatte den Blick über Lydias knochigen Hüften und die kleinen Brüste schweifen lassen und schnaubte geringschätzig. Lydias Wangen brannten.
Während sie vor der Bäckerei allmählich vorwärtsrückten und die eisige Kälte durch ihre dünnen Sohlen kroch, zeigte Lydia über die Straße.
»Schau mal«, sagte sie.
Im Eingang eines verrammelten Ladens hatte sich jemand aus Kartons eine notdürftige Unterkunft gebaut, die zur Seite abgeknickt war wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel. Aus dem einen Ende ragte ein Paar Füße in Lumpen. Doch die Füße hatten sich schon viel zu lange nicht mehr geregt. Schlief der Mann? War er tot? Verletzt? Oder nur in Träumen versunken?
»Lass«, sagte Elena und versuchte, Lydia Einhalt zu gebieten, indem sie ihr die Hand auf den Arm legte. »Es ist gefährlich.«
»Elena, ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie es ist, wenn man so hungrig ist, dass man seine eigenen Zehen aufessen könnte.« Sie schüttelte ihre Hand ab. »Der Kommunismus soll unsere Gesellschaft gerechter machen. Und zwar für jeden.«
Elena strich sich verärgert ein paar strohige Haarsträhnen aus dem Gesicht und stopfte sie unter ihre Mütze, als könnte das Ordnung in ihre Gedanken bringen. »Die Welt ist einfach nicht gerecht, hast du das noch nicht begriffen? Sieh dich doch um.«
Und Lydia sah sich um. Zu den Frauen, die stundenlang für ein paar Gramm Schwarzbrot anstanden, und zu den Füßen, die aus dem zusammengebastelten Karton ragten. Doch Elena war noch nicht fertig.
»Das Problem mit dir, Mädchen, ist, dass du denkst, du kannst dir eine neue Welt bauen, mit einem Vater und einem Bruder, mit denen du es dir in einer gerechten Welt gemütlich machen kannst. Und jetzt hast du Angst, dass dies alles um dich herum in die Brüche geht und du mit leeren Händen dastehst.«
»Nein.« Lydia schaute ihr in die Augen. »Nein, da täuschst du dich.«
Die kleinen Fältchen der älteren Frau glätteten sich ein wenig und sie schenkte ihr einen freundlichen Blick. »Jetzt guck nicht so verzweifelt. Ich weiß, wie es ist, nichts und niemanden zu haben. Es ist gar nicht so schlimm.« Sie lächelte, ein trauriges kleines Lächeln, bei dem sich ihre
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