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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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Lippen nur ein wenig nach oben zogen. »Wenn du dran gewöhnt bist. Weil du dann nichts mehr zu verlieren hast.«
    »Aber ich hab doch immer noch …« Lydia spürte ein winziges Beben in ihrer Brust. »Ich hab doch immer noch alles zu verlieren.«
    Sie löste sich von Elena und stürzte quer über die Straße auf die Kartonbehausung zu.
    In dem Hauseingang stank es so sehr, dass sich Lydia fast abgewandt hätte. Alte Zeitungen stapelten sich in einem durchnässten, gelben Haufen hinter der Kartonbehausung, und irgendeine schleimige Pfütze glitzerte in der Ecke. Als hätte sich jemand übergeben und es wäre festgefroren. Sie wusste, dass Elena Recht gehabt hatte, als sie sagte, es sei gefährlich. Lydia war keine Moskauerin und wusste nicht, was man in dieser Stadt zu tun und zu lassen hatte. Nervös stupste sie den Fuß an, der aus dem Karton ragte.
    »Ist alles in Ordnung?«
    Auf der Stelle wurde der Fuß eingezogen. Es war also kein Toter. Immerhin etwas.
    »Brauchst du Hilfe?«
    Es kam Bewegung in den Karton. Auf der Straße eilten die Menschen vorbei, die Gesichter abgewandt. Vorsichtig steckte Lydia den Kopf in die Behausung.
    »Hallo.«
    »Hau ab.«
    »Ist alles in Ordnung?«
    Sie legte eine Hand auf den Karton, der ganz nass und weich und ebenso kalt wie die Wange einer Leiche war. Hastig wischte sie sich die Hand am Mantel ab. Die Versuchung, sich umzudrehen und zurück über die Straße zu laufen, wo Elena mit finsterem Blick auf sie wartete, war groß.
    »Hallo«, sagte sie noch einmal und tippte mit dem Finger gegen die vordere Klappe der Kartonbehausung, die als Tür diente. Sie gab sofort nach.
    Ein Paar blaue Augen starrte zurück. Eine flüchtige Sekunde lang reagierte keiner, weil beide von der unerwarteten Begegnung überrascht waren. Die Augen bewegten sich, bevor Lydia sich regte, und der Mann kroch nach hinten aus der Behausung heraus und blieb wie eine eingekreiste Ratte dort hocken, gegen die Ziegelmauer hinter dem Türbogen gelehnt.
    »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Lydia rasch.
    Keine Antwort. Nur ein paar wild dreinblickende Augen und ein Gesicht, über dem sich die Haut so straff spannte, dass man fast Angst hatte, sie könne reißen. Lydia bemerkte mit Erleichterung, dass es sich bloß um einen Jungen handelte, der etwa zwölf Jahre alt war. Trotz der eisigen Temperaturen rann ihm der Schweiß über den Hals. Sie lächelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass sie nichts Böses im Schilde führte.
    »Ich dachte, vielleicht brauchst du Hilfe.«
    »Hau ab.«
    »Du siehst … nicht gut aus.«
    »Na und?«
    »Deshalb bin ich rübergekommen, und …«
    »Hau ab.«
    Langsam ging ihr seine Schroffheit auf die Nerven. »Jetzt hör mal auf, ja? Ich biete dir Hilfe an.«
    »Warum?«
    Das Misstrauen beruhte auf Gegenseitigkeit. Die Luft in dem tristen Toreingang war zum Schneiden.
    »Weil … na ja, weil ich mich noch gut erinnern kann.«
    Sein Haar hatte eine seltsame Farbe. Milchweiß. Als hätte ihn das Leben beinahe zu Tode erschreckt. Sein Gesicht und die Hände waren schwarz vor Ruß und Dreck, und sie musste an einen altmodischen Schornsteinfegerlehrling denken. Nur an seinem Kinn war ein winziger Fleck hell geblieben. Sie machte einen Schritt rückwärts, weil sie ihn nicht noch mehr aus der Fassung bringen wollte, und wäre dabei fast auf dem Eis ausgerutscht.
    »An was erinnerst du dich?« Sein Atem kam nur stoßweise.
    »Auch egal. Bist du krank?«
    »Was geht dich das an?«
    Lydia wollte noch nicht aufgeben. »Hier«, sagte sie.
    Sie griff in ihre Manteltasche und warf dem Jungen eine Münze zu. Mit flinken Augen, die unter schweren Lidern tief in die Höhlen gesunken waren, verfolgte er den Bogen, den die Münze in dem schummrigen Dämmerlicht machte, und schnappte sie sich mit einer solchen Flinkheit, dass Lydia das Herz überging. Ja, daran erinnerte sie sich sehr gut. Wie bitter, bitter nötig man es haben konnte.
    »Iss was«, sagte sie.
    Er biss auf die Münze. Sie grinste.
    »Ein bisschen chleb , meine ich.«
    Mit einem Mal kauerte er sich auf den Boden nieder, und sie sah den Riss, der von oben bis unten durch seine zerschlissene Jacke ging, als hätte ihn jemand zu packen versucht und er sich befreit. Seine Aufmerksamkeit galt nicht mehr ihr, sondern dem feuchten Kartonhaufen, der in sich zusammengesunken war, kaum war er herausgekrabbelt.
    »Misty«, flüsterte er.
    Ein Beben ging durch den Kartonhaufen. Dann eine blitzschnelle Bewegung, als wäre etwas herausgesprungen,

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