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Die Sehnsucht Meines Bruders

Die Sehnsucht Meines Bruders

Titel: Die Sehnsucht Meines Bruders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Waters
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Locken waren unter einer roten Baseballmütze verschwunden. „In der Hitze, bist du wahnsinnig? Ich habe gerade mit dem Gedanken gespielt, mir dieses T-Shirt auch noch auszuziehen.“
    „Das solltest du auf keinen Fall tun. Du weißt doch, wie unbarmherzig die Sonne in den Bergen sein kann, du wirst dir trotz dieses hellblauen Fetzens, den du da anhast, einen Sonnenbrand holen, wenn du nicht vernünftiger wirst. Die Sonne dringt da mühelos durch, besonders bei deiner hellen Haut. Und hier ist Südtirol, nicht die Schweiz. Das macht was aus.“
    „Immer ganz die Stimme der Vernunft, mein großer Bruder.“ Ungerührt und ohne mich weiter zu beachten, sah James sich in der Gegend um.
    Umgeben von dunklem, hier oben allerdings nicht mehr so dichtem Tannenwald duftete die steile Bergwiese, auf der wir unterwegs waren, von den Tausenden seltener Blumen und würziger Kräuter, die hier wuchsen. Bienen und Hummeln summten um uns her und bunte Schmetterlinge taumelten in der warmen Luft. Es war richtig kitschig, so schön war es.
    Unter uns lag das Dorf in blauem Dunst. In der Nähe standen einige krüppelige Kiefern, deren dicke Wurzeln sich um ein paar graue verwitterte Felsbrocken wanden. „Was hältst du von einer Stunde Pause dort im Schatten?“
    „Gute Idee“, nickte ich, und wir hielten auf die Baumgruppe zu.
Schweigend verputzten wir die uns von Lisa eingepackten Brote. Legten uns dann nebeneinander auf die duftenden Kiefernnadeln und starrten in die endlosen Tiefen des klaren Azurs über uns. James kaute auf einem langen Grashalm herum.
„Sag mal ... ich meine, ich will dich ja nicht nerven, aber wir hatten doch beschlossen, alles offenzulegen.“, fing ich an. „Tja, und da dachte ich, wir beginnen am besten mit der Gegenwart. Einfach, um zu klären, wo wir überhaupt stehen.“
„Sehe ich auch so.“, war die trockene Antwort. „Als erstes müssen wir aber auf jeden Fall mal die Modalitäten klären.“
„Die Modalitäten?“
„Klar, die Regeln. Wenn wir uns aussprechen wollen, ohne uns an die Kehle zu gehen, müssen wir uns schon ein paar Regeln ausdenken und sie unter allen Umständen befolgen.“
„Und was schlägst du vor?“, fragte ich zweifelnd.
James schlug nach einer Ameise, die ihn in den Arm piekste. „Ich finde wir sollten uns abwechselnd je eine Frage oder Aufgabe stellen, die wir vorher gemeinsam besprechen.“
„Besprechen?“
„Ja, ich meine, zum Beispiel schlägst du mir eine Frage vor, die du mir gerne stellen würdest, und wir sprechen zunächst einmal darüber, ob mir diese Frage zu diesem Zeitpunkt überhaupt gefällt.“
„ Gefällt ? So kommen wir doch nie weiter. Natürlich sollte jeder die gestellten Fragen so gut wie möglich zu beantworten versuchen.“
„Nein, nein ...“ James drehte sich auf die Seite, um sich mir zuzuwenden. „Wir sollten diese Sache so vorsichtig wie möglich angehen. Hast du nicht auch das Gefühl, das könnte ziemlich wichtig werden? Ich meine ... für uns beide.“
Ich setzte mich umständlich auf und lehnte mich gegen den Fels in meinem Rücken. Die Kühle tat gut. Mir tat jetzt schon alles weh, wie sollte das in den nächsten Tagen erst werden? „Glaub schon. Könntest Recht haben. Gut, machen wir’s so.“
„Okay, wenn einer von uns also nicht antworten will, wird die Frage vertagt. Ist klar, dass sie so oder so irgendwann beantwortet werden muss, aber noch nicht zu diesem Zeitpunkt, ja?“
„Na gut.“ Hauptsache wir würden überhaupt irgend etwas klären. „Aber wenn wir antworten, muss das auch zuverlässig und absolut ehrlich sein. Wie es immer so schön heißt: nach bestem Wissen und Gewissen.“
Ein leichter Wind kam plötzlich auf, rauschte leise in den Kiefernzweigen und machte die Hitze ein wenig erträglicher. Ich beobachtete eine kleine Haarsträhne, die in James Stirn gefallen war, und mit der nun der sanfte Lufthauch zärtlich spielte. Er war mir so nah und meine Hand kribbelte, weil ich diese Strähne am liebsten berührt hätte, um zu spüren, ob sie wirklich so weich war, wie sie aussah.
„Gut, damit bin ich einverstanden.“, sagte er. „Keine Geheimnisse mehr, wenn wir hier durch sind. Also entweder Antwort vertagen oder antworten und dann so ehrlich wie möglich, Irrtümer natürlich vorbehalten. Aber es geht auch nicht, dass einer den anderen den ganzen Tag mit Fragen löchert und der andere gar nicht zum Zuge kommt.“
Ich riss mich von seinem Anblick los. „Einverstanden, wenn einer die Nase voll hat oder

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