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Die Sehnsucht Meines Bruders

Die Sehnsucht Meines Bruders

Titel: Die Sehnsucht Meines Bruders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Waters
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selbst etwas fragen will, kann er das sagen. Am besten wir wechseln nach einem irgendwie festen Rhythmus, vielleicht alle halbe Stunde oder alle vier oder fünf Fragen oder so ...“ Plötzlich musste ich lachen. „Wir sitzen hier und reden über die Bedingungen für ein Gespräch, als handele es sich um ein Duell im Morgengrauen. Das ist doch bescheuert.“
Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst und rollte sich auf den Rücken. „Vielleicht, aber es ist nicht so einfach, nach so langer Zeit wieder eine Basis zu finden.“
„Wir hatten doch nie eine.“, warf ich ein.
„Eben. Wenn ich das also recht verstehe, willst du, dass ich anfange.“
„Nein, ich dachte nur, da du ja jetzt so ziemlich alles über den augenblicklichen Stand bei mir weißt, solltest du mal damit anfangen und mir ein wenig von deinem Leben in der Schweiz erzählen. Ich meine, ich weiß ja rein gar nichts von dir. Zum Beispiel, was du arbeitest ... Vater hat dich doch bestimmt irgendwo hingesteckt, wie mich damals, oder? Wohnst du noch zu Hause und wenn ja, wie machst du das mit deinen wechselnden Liebhabern, oder hast du einen festen Freund? Und was sagt Vater dazu? Was machst du überhaupt so in deiner Freizeit, wofür interessierst du dich, wofür kannst du dich begeistern? All so was halt.“ Oh je, was war denn da aus mir herausgesprudelt?
„Also gut, aber der richtige Zeitpunkt ist meiner Meinung nach noch nicht gekommen.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, ich finde, wir sollten uns erst ein paar Tage nur aufs Wandern konzentrieren. Du weißt schon, uns erst mal ein wenig verausgaben, den Stress abbauen. Uns freilaufen sozusagen. Vielleicht erzähle ich dir heute Abend schon mal das ein oder andere, aber ans Eingemachte zu gehen ... dafür sollten wir uns noch etwas Zeit lassen ... hast du eigentlich einen Plan? Ich meine, wohin gehen wir?“
Ich nahm noch einen Schluck aus meiner Wasserflasche, bevor ich antwortete. „Ich peile da einen kleinen Schmelzwassersee an. Herrlich blaugrünes Wasser in einem Hochtal, an dessen Steilwänden wir mit ein bisschen Glück Gämsen beobachten können. Habe sogar den Verdacht, dass da ein Luchs herumschleicht. Nur einen Schemen hab ich damals gesehen, einen Schwanz und braun-schwarz geflecktes Fell. In der Entfernung war die Größe schwer zu schätzen. Könnte natürlich auch eine Wildkatze gewesen sein. Sollte mich aber wundern, wenn ich mich getäuscht hätte.
Das Tal ist nicht leicht zu finden, und das einzige Mal, als ich da war, bin ich von einem anderen Ausgangspunkt etwa 20 Kilometer nordöstlich von hier losgegangen. Ich muss dich also warnen. Es ist weit, und ich kenne den Weg nur so ungefähr. Hier herum, klar, das ist mir alles bekannt von anderen Ausflügen, aber weiter oben sieht die Sache schon anders aus. Die gute Nachricht ist, dass ich eine sehr genaue Wanderkarte dabei habe.“
„Klingt doch gut.“
* * *
    Tatsächlich erreichten wir gegen sechs Uhr die Hütte, in der wir heute übernachten wollten. Wir sahen sie schon von Weitem auf einem Bergabsatz thronen, umgeben von bunten Bergwiesen. Die einzige Hütte auf unserem Weg, die bewirtschaftet war und kleine Zimmer für Wanderer anbot.
    „Wir haben nur noch ein Zimmer frei, reserviert hatten sie nicht?“ Die kleine, rundliche und anscheinend sehr resolute Wirtin stand im Eingang und wartete ruhig und selbstbewusst auf meine Entscheidung.
    Ihr nach hinten gekämmtes, schon etwas dünnes und von weißen Strähnen durchzogenes schwarzes Haar war in einen schlichten Knoten gebunden. Ein geblümtes Küchenkleid und eine reinliche blaue Schürze vervollständigten ihr bodenständiges Äußeres.
    Im Hintergrund auf der Wiese arbeitete ein Schnitter in langen Arbeitshosen, weißem Hemd mit akkurat aufgekrempelten Ärmeln und einem Hut, der schon bessere Tage gesehen hatte. Es war wohl ihr Mann, der dort mit gemessenen Bewegungen Gras für den Winter schnitt. Auch er hatte die für Südtirol so typische blaue baumwollene Arbeitsschürze umgebunden, den rechten Zipfel zur Taille hochgesteckt. Das Glück des einfachen Lebens, dachte ich. Die hatten keine Zeit, sich mit solchen Problemen herumzuschlagen wie unsereins. Hier ging es nur ums Überleben.
    „Ich habe leider vergessen zu reservieren.“, antwortete ich schließlich und hätte mir selbst in den Hintern treten können. „Aber wir nehmen gern das Einzelzimmer.“ Ich konnte ja im Schlafsack auf dem Boden schlafen. Manchmal schlief man auf dem harten Boden besser als im

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