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Die Seidenbaronin (German Edition)

Die Seidenbaronin (German Edition)

Titel: Die Seidenbaronin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Rauen
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herab und ließ sich neben seinen ohnmächtigen Begleiter fallen. «Ist mein Bruder tot?»
    «Nein», beruhigte Christian ihn. «Er ist vor Schmerzen bewusstlos geworden. Er muss schnellstmöglich zu einem Arzt. Wir werden eine Trage bauen und ihn vorsichtig zu meiner Kutsche schaffen!»
    Ein seltsamer Tross näherte sich auf der Straße. Der kleinen Boltenhusener Kutsche folgte ein klappriger Leiterwagen, vor den zwei Ochsen gespannt waren.
    Erschöpft und mit einem Gefühl großer Erleichterung suchte Paulina Schutz hinter der Bahro’schen Kutsche. Sie hatten es geschafft! Die Hilfe aus dem Dorf kam zwar zu spät, aber nun konnte der Ochsenkarren wenigstens die verlorene Ware der armen Fischer aufnehmen.
    Sie spürte, wie jemand ihr einen Mantel über die Schulter legte.
    Paulina wandte sich um. Christian stand vor ihr, ein liebevolles Lächeln auf den Lippen. «Ich sah, dass Sie frieren, da habe ich einen trockenen Umhang aus meinem Gepäck geholt.»
    Sie konnte nicht anders. Wie von einer übernatürlichen Kraft getrieben, warf sie sich an seine Brust. Sie fühlte sich von seinen Armen umschlungen, seine männliche Körperwärme hüllte sie ein. Er presste sie an sich, und die Knöpfe seiner nassen Uniformjacke drückten sich in ihre Wange. Sie hob den Kopf und sah ihn an. In seinen Augen, deren leuchtend braune Farbe so durchscheinend war und doch so etwas Undurchdringliches hatte, lag jene Melancholie, die ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Sie brauchte sich nicht länger etwas vorzumachen – ihre Gefühle für ihn waren noch immer dieselben wie an jenem berauschenden Tag in Trugenhofen.
    Damals waren sie noch zu jung und unerfahren gewesen, um ihrer jäh erwachten Leidenschaft nachzugeben. Doch jetzt, im strömenden Regen dieses stürmischen Abends, durch die Kutsche vor neugierigen Blicken geschützt, tat Christian das, was er fünf Jahre zuvor nicht gewagt hatte: Er senkte seine Lippen auf ihre und verschloss ihren Mund mit einem weichen Kuss.
    Paulina vergaß ihre nassen Kleider und die ungemütliche Kälte, sie vergaß die nervenaufreibenden letzten Tage und die vergangenen, schreckerfüllten Stunden. Fast scheu zu Beginn, fühlte sie sich bald von einer glühenden Lust erfasst. Mit dem Wissen ihrer Erfahrung spürte sie, dass es Christian ebenso ging. Dieser Mann, der ihr so überlegt und beherrscht erschienen war, begehrte sie heftig.
    Er liebt mich, er liebt mich wirklich, dachte sie beglückt, bevor sie von einem Strudel bisher nicht gekannter Empfindungen mitgerissen wurde.
    «Gnädiger Herr, wir sind fertig!», ertönte eine männliche Stimme wie aus einer anderen Welt. «Der junge Mann ist in der Kutsche. Wir können abfahren.»
    Christian löste sich langsam von ihr. Sein Atem ging schwer. Er sah Paulina an, wie von etwas Unvorstellbarem überwältigt.
    «Liebste», flüsterte er, «geh heute Nacht nicht von mir!»

Kapitel 30
    Heiligendamm, Oktober 1794
    «Kennen Sie die Sage vom Heiligen Damm, gnädige Frau?», fragte der Fischer, während er seelenruhig sein Netz flickte.
    Paulina, die auf einer Bank am Tisch saß, schüttelte den Kopf. «Nein», antwortete sie.
    Die Kerze auf dem groben Holztisch warf flackernde Schatten auf das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht des Mannes. Draußen heulte der Wind und pfiff durch die Ritzen des Hauses. Der Regen prasselte hart gegen die Fensterscheiben. Es war mittlerweile stockdunkel.
    Im Ofen knisterte ein Feuer. Die Fischerin saß stumm auf einem Schemel davor und rührte bedächtig in einem großen Topf, der über der Flamme hing. Köstlicher Essensduft erfüllte den Raum.
    «Die Bewohner in dem kleinen Ort nahe Doberan lebten in arger Bedrängnis», begann der Fischer zu erzählen. «Die Flut hatte ihnen schon ein gutes Stück Land geraubt und drohte, die nahe dem Ufer gelegenen Häuser mit sich fortzureißen. In ganz Mecklenburg wurden Betstunden angeordnet, damit der Herr den armen Menschen Hilfe schicken möge. Der nächste Sturm kam – er wütete so gewaltig wie heute. Die See rauschte, der Boden erzitterte, Blitze zuckten über den Himmel. Dann wurde es stiller, und der Mond trat hinter den Wolken hervor. Die Bewohner schauten ängstlich aufs Meer hinaus. Da lag etwas Großes, Dunkles im Wasser, und manche glaubten, es sei ein Ungeheuer, das seinen Rücken aus der Flut hob. Als es Tag wurde und das Wasser vom Strand zurückgewichen war, sahen die erstaunten Bewohner eine Düne. Wie ein fester Damm war sie in der Nacht

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