Die Seidenstickerin
menschenleeren Strand, um seiner Herrin Schlag zwölf Uhr den Fang nach Hause zu bringen.
Alix verspeiste mit großem Appetit Jakobsmuscheln, Miesmuscheln, Crevetten, Krabben und Uferschnecken und dachte dabei daran, wie ihre Mutter sie an ihren freien Tagen mit ans Meer genommen hatte, um all diese Meeresfrüchte zu suchen, die so angenehm salzig nach Atlantik schmeckten.
»Du liebst also unseren Jacquou?«, sagte Dame Bertrande und freute sich über den gesunden Appetit ihres jungen Schützlings.
»Ja, Dame Bertrande«, seufzte Alix und ließ genießerisch eine schöne meeresfarbene Auster im Mund verschwinden, »seit wir uns das erste Mal begegnet sind, lieben wir uns so sehr, dass uns nichts trennen kann. Wir wollen sogar zusammen in einer Werkstatt arbeiten.«
»Was hast du denn gelernt?«
»Meister Gauthier aus Tours hat gesagt, dass ich eine sehr gute Arbeiterin bin und alles erstaunlich schnell gelernt habe.«
»Du meinst das Weben am Flachwebstuhl?«
»Nein, Dame Bertrande, das beherrsche ich ja schon lange! Ich meine die Arbeit am Hochwebstuhl. Jacquou und Arnold haben mir beigebracht, wie man damit arbeitet. Und die wirklich kunstvollen Wandbehänge kann man nur so weben. Deshalb will ich an einem Hochwebstuhl arbeiten, weil ich da meiner Phantasie freien Lauf lassen kann.«
Dame Bertrande nickte zustimmend.
»Ihr müsst jetzt aber irgendwie allein zurechtkommen, weil Euch mein Mann bestimmt nicht helfen wird.«
»Wollt Ihr ihn denn wirklich nicht wiedersehen?«
»Ach woher! Eines Tages kommt er wieder, so war das schon immer. Auch wenn ich ihn rauswerfe, kommt er immer wieder. Diesmal wartet er aber wahrscheinlich länger ab in der Hoffnung, ich könnte die Geschichte vergessen haben.«
»Werdet Ihr sie denn bald vergessen?«
»Nein! Ich habe nämlich gar keine Lust, ihm diesen Fehler zu verzeihen. Coëtivy wusste ganz genau, dass ich Jacquou wie meinen eigenen Sohn liebe. Er hätte mir sagen müssen, dass er sein Kind ist. Ich hätte ihm auch bestimmt keine weiteren Fragen gestellt, umso mehr, als ich sehr schnell hätte begreifen müssen, dass die Mutter seines Sohnes wohl kaum die einzige Liebe seines Lebens war.«
»Jacquous Mutter hieß Léonore.«
»Hat Jacquou dir das erzählt?«
»Ja, er hat mir sein Geheimnis anvertraut, als ich acht war.«
»Großer Gott, so klein warst du da noch! Und wo hat er dir das erzählt?«
»Ich hatte mich in einer Kutsche versteckt, mit der zwei Zofen von Königin Anne und drei Stickerinnen von Meister Yann unterwegs waren.«
»Aber ja, daran kann ich mich erinnern. Ich habe sie hier beherbergt und verköstigt.«
Alix nickte. Was ging ihr da nicht alles durch den Kopf, und wie jung war sie damals gewesen!
»Die drei waren gute Freundinnen meiner Mutter, die damals gerade gestorben war und mich allein zurückgelassen hatte«, sagte Alix traurig. »Sie hatten versprochen, sich um mich zu kümmern, weil ich nicht ins Kloster wollte.«
»Armes Kind! Ist dir das Kloster denn erspart geblieben?«
»Leider nicht! Man hat mich in einem tristen Haus eingesperrt, wo ich ständig gehorchen und beten musste. Weil ich aber die ganze Zeit nur daran gedacht habe, wie ich fliehen und zu meinem Jacquou kommen könnte, haben mich die Nonnen nicht besonders gemocht.«
»Es ist jedenfalls schade, dass du nicht aus deiner Kutsche herausgekommen bist. Ich hätte bestimmt etwas für dich tun können.«
»Ich hatte solche Angst, dass man mich findet. Außerdem habe ich an dem Abend Isabelle kennen gelernt.«
»Isabelle! Hast du diesen Namen nicht schon mal erwähnt?«
»Ja, sie ist Jacquous Halbschwester. Léonore war auch ihre Mutter.«
»War diese Léonore verheiratet?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Isabelle, ihre Tochter, an dem Abend, an dem ich sie kennen gelernt habe, Euch auf keinen Fall begegnen wollte.«
»Was wollte sie denn dann hier?«
»Sie wollte Jacquou sehen, ehe er sich auf den Weg zu seiner Lehrstelle machte. Sie mag ihn sehr gern und hat Meister Coëtivy mehrfach aufgefordert, Euch die Wahrheit zu sagen. Aber er hat sich immer geweigert.«
Mit Sicherheit hatte Dame Bertrande nicht geahnt, dass der Junge, um den sie sich gekümmert hatte, seit er auf der Welt war, so ein großes Geheimnis hütete.
»Mein armer kleiner Jacquou! So wie ich ihn kenne, wollte er mir bestimmt manchmal alles sagen. Er muss seinen Meister sehr bewundern und hoch achten, dass er dieses große Geheimnis für sich behalten konnte.«
»Damit ist jetzt
Weitere Kostenlose Bücher