Die Seidenstickerin
Anblick des Kahns beruhigte sie aber ein wenig, und sie fasste wieder Mut. Außerdem war ihr Körper jetzt so im Fenster eingeklemmt, dass ihre Beine, noch im Zimmer, in der Luft hingen. Doch dann nahm sie alle Kraft zusammen, holte Schwung, stieß sich von dem Fenster ab und fiel in die Tiefe.
Der Kahn hatte sie nicht ganz auffangen können, weil sie knapp daneben gesprungen war – mit einem Fuß in das Boot, mit dem anderen ins Wasser; und der Mann hatte einige Schwierigkeiten, um sie am Arm ins Boot zu ziehen.
Alix spürte, wie sie das kalte Wasser bis auf die Haut durchnässte. Dieses unfreiwillige Bad gefiel ihr zwar gar nicht, doch was kümmerte sie das schon. Sie war überzeugt, dass sie bald weit weg von Coëtivy und seinen finsteren Plänen sein würde.
Als sie sich auf dem Boden des Kahns in Sicherheit fühlte, holte sie erst einmal tief Luft, entspannt, erleichtert und beinahe behaglich, und sah dann ihren Retter an.
»Arnold!«
»Ja, ich bin’s. Ich war dabei, als Coëtivys Männer mit dir mein Haus verließen.«
»Ich habe dich aber gar nicht gesehen!«
»Zuerst hatte ich mich hinter der fremden Kutsche versteckt, die mir irgendwie seltsam vorkam.«
»Die stand aber weit weg vom Haus.«
»Deshalb bin ich ja dann auch näher gekommen. Dann habe ich Stimmen gehört, Schreie, Guillemin hat geweint. Ich habe aber nicht eingegriffen, weil das alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Ich wusste ja überhaupt nicht, worum es ging.«
»Ach, Arnold! Die Männer hätten Guillemin mitgenommen, wenn ich nicht mit ihnen gegangen wäre.«
»Ich weiß, das habe ich gehört. Ich hab gelauscht, die Tür stand ja halb offen. Aber ich hatte keinen Stock und kein Messer dabei, nichts, womit ich euch hätte helfen können. Das musste einfach schiefgehen, und dann wären wir alle in großen Schwierigkeiten gewesen. Und dann hab ich gehört, wie du verlangt hast, dass sie Arnaude losbinden und zu ihr gesagt hast, dass du sie beim nächsten Mal mit Jacquou besuchst.«
Mit zwei, drei Schlägen steuerte Arnold den Kahn vorsichtig vom Fenster weg und ruderte um die Rückseite der Mühle herum für den Fall, dass sie jemand beobachten sollte. Außer einem leisen Geplätscher war nichts zu hören. Ein Bach zweigte von dem Wassergraben ab und mündete in einen kleinen Fluss, den sie aber nicht entlangfahren mussten, weil die Ufer der Loire bereits vor ihnen auftauchten.
»Arnaude hat mir dann alles erzählt und mich angefleht, dir zu helfen.«
»Danke! Ich danke euch vielmals!«
Sie sprang auf und wollte ihn vor lauter Dankbarkeit umarmen; dabei hätte sie beinahe das Boot zum Kentern gebracht, was Arnold mit einem geschickten Ruderschlag gerade noch verhindern konnte.
»Wie kann ich das nur wiedergutmachen?«
»Jetzt hör aber auf! Vergiss es einfach. Schau lieber mal, wer da ist!«
Alix sah suchend in die Richtung, die ihr Arnold gezeigt hatte, und dann strahlte sie vor Freude. Da stand doch tatsächlich ihre Amandine am Flussufer und trank ganz zufrieden Wasser.
»Du musst so schnell wie möglich von hier verschwinden, sonst holt dich Coëtivy in ein paar Stunden wieder ein.«
»Ich habe doch zwei Tage Vorsprung.«
»Nein, Alix, du kannst auf keinen Fall in Tours bleiben. Nimm meinen Mantel, dann ist dir nicht so kalt – du bist ja ganz durchnässt. Los jetzt, geh zu deiner Amandine, und mach dich auf den Weg nach Paris. Aber sei vorsichtig, Coëtivy will auch wieder in den Norden, und sein Weg ist auch dein Weg.
Erleichtert und beinahe beruhigt traf Alix ein paar Tage später in Paris ein. So eine Stadt hatte sie noch nicht gesehen, und sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die vielen Farben und Gerüche, das Geschrei, die Fuhrwerke, die überall herumfuhren, sogar in die engsten Gassen, wobei es dann meist zu lautem Gezeter kam, wenn die Waren vor den Geschäften zu Bruch gingen und in der Gosse landeten.
Dame Bertrande war wirklich bestens unterrichtet. Am Boulevard Saint-Marcel, ihrer ersten Anlaufstelle, wurde ihr bestätigt, dass eine Gruppe von Tuchhändlern Anfang April Richtung Norden aufbrechen wollte. Bis dahin logierten die Kaufleute im Gasthaus »Zum Goldenen Ochsen«.
Seit Alix am Morgen durch die Porte Saint-Honoré in die Stadt gekommen war, war sie schon durch so viele Viertel geirrt, dass sie nicht mehr wusste, ob es noch weit war zum Laden von Dame Le Guennec.
Alix war begeistert von den vielen schönen breiten Straßen. Und die Seine floss viel ruhiger dahin als ihre
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