Die Seidenstickerin
geliebte Loire, die für sie mit so vielen glücklichen und unangenehmen Erinnerungen verbunden war. An Paris gefiel ihr einfach alles – der Petit-Pont und der Pont-au-Change, die Kathedrale Notre-Dame, die Stadtviertel Île de la Cité, Temple, Châtelet und Bastille, wo sie sich besonders gründlich umsah, ohne dass sie jedoch den Laden von Dame Le Guennec gefunden hätte.
Alles hier in der Hauptstadt war für sie neu, ungewohnt und so fremd, dass sie es nicht einmal wagte, ein Gasthaus zu betreten. Auf ihrem Ritt durch die Stadt stellte sie außerdem schnell fest, dass hier alles nach Zünften geordnet war; immer fanden sich alle Angehörigen einer Zunft in derselben Straße oder demselben Viertel: die Geldhändler, die Goldschmiede, die Schuhmacher, die Leinweber, die Illuminierer, die Buchbinder und die Teppichweber. Ach, bei den Teppichwebern in der Rue Saint-Jacques sollte sie sich wohl lieber nicht allzu lange aufhalten. Also bog sie in die Rue Quincampoix ein, wo alle Kurzwarenhändler zu finden waren.
Weil sie das Geschäft der Witwe Le Guennec aber noch immer nicht entdeckt hatte, irrte sie auf ihrem munteren kleinen Muli weiter durch die Straßen. Irgendwann schickte man sie in das Viertel Villeneuve-du-Temple zurück, wo ihr dann jemand sagte, sie müsse erst die Rue des Blancs-Manteaux nehmen und dann in die Rue de la Porte-du-Chaume einbiegen.
Amandines Hufe klapperten über das holprige Pflaster, und bei jedem unbekannten Geräusch spitzte das Tier die Ohren. Alix machte es nicht anders, beobachtete alles ganz genau und fragte sich, wo sie wohl landen würden.
Was für ein lärmendes Durcheinander herrschte hier auf den Straßen, und was gab es nicht alles für komische Leute! Marktschreier, die fast unter dem Gewicht seltsamer Pakete und Körbe voll mit unglaublichem Plunder zusammenbrachen, fahrende Händler, die Kerzen, Stiefelwichse und alle möglichen Spezereien feilboten, Wasserträger, Waschfrauen, Milchverkäufer und Käsehändlerinnen. Alix kam mit dem Schauen gar nicht nach und war dann doch ganz überrascht, als sie sich plötzlich in der Rue Richard-des-Poulies wieder fand, in der das Geschäft der Dame Le Guennec sein sollte.
Alix bedeutete Amandine, etwas langsamer zu gehen. Das Maultier hatte die Ohren inzwischen nicht mehr aufgestellt, obwohl es noch immer sehr laut war. Kurz darauf redeten zwei Frauen wild auf Alix ein; die eine trug zwei große Körbe mit geräucherten Heringen, und die andere, die wie sie selbst auf einem Muli saß, wollte ihr um jeden Preis etwas von ihrem schönen Spinat und ihrer guten Brunnenkresse verkaufen.
In der Mitte der Rue Richard-des-Poulies wurde sie von einem ohrenbetäubenden Lärm von Wagenrädern, Esel- und Pferdehufen, Hunden, die an allen Ecken herumkläfften, und großen, eisenbeschlagenen Rädern von Karren, die Holz oder Heu transportierten, oder von schweren Fuhrwerken, einer Art Kipplastern, die von drei oder vier Ochsen gezogen wurden, empfangen.
Mittlerweile waren Alix’ Augen müde vom vielen Schauen, und ihr brummte der Kopf. Nur zu gern hätte sie jetzt so schnell wie möglich ein ruhiges, stilles Plätzchen gefunden, auch weil sie merkte, dass Amandines Eifer bei jeder neuen Abzweigung in eine andere Straße oder Gasse nachließ. Aber ihre mühsame Suche kreuz und quer durch Paris endete nun plötzlich, als Alix am Ende der Rue Richard-des-Poulies an einem schmiedeeisernen Halter direkt über einem Mauervorsprung ein Schild hängen sah, auf dem in goldenen Lettern geschrieben stand: »Zum weißen Faden«.
Alix hatte so viel gefragt, beobachtet, gesehen und gehört, dass sie nicht einmal mehr recht wusste, wo die Seine war, zu der sie Amandine gerade noch geführt hatte. Sie hatte sich schließlich nur noch damit begnügt, den Straßennamen zu folgen, die man ihr nannte. Die Straße, die sie dann endlich zu Dame Le Guennec führte, wirkte noch sehr mittelalterlich; trotzdem fand Alix, dass es dort weniger streng als in den meisten anderen roch. Ob das an den Mauervorsprüngen der Häuser lag, über die der Regen direkt in die Gosse abfließen konnte?
In der Rue Richard-des-Poulies gab es sehr viele Geschäfte, und den ganzen Tag lang saßen die Handwerker hinter ihrem Fenster, das gleichzeitig die Auslage darstellte. Interessierte sich ein Passant für die Ware, die auf dem heruntergelassenen Fensterladen ausgestellt war, konnte er einen Blick darauf werfen oder eine Frage stellen; sobald aus dem Passanten ein möglicher
Weitere Kostenlose Bücher