Die seltsame Welt des Mr. Jones
und wurde dieser Darbietung nie müde. Er fand Gefallen an den fröhlichen Kostümen, an den lyrischen Melodien und dem jungen Chor. Die Musik und das farbenfrohe Bild versetzten ihn in einen Dämmerzustand. Träumend, halb schlafend, lehnte er sich zurück und ließ das Schauspiel auf sich einwirken.
Aber etwas war nicht in Ordnung.
Er wurde plötzlich hellwach und setzte sich auf. Nina saß neben ihm wie entrückt. Bevor er recht wußte, was er tat, war er aufgestanden. Nina fuhr aus ihrer Trance empor.
»Was ist los?« flüsterte sie erstaunt. Er hob beschwichtigend die Hand und zwängte sich durch die Reihe zum Mittelgang. Einen Augenblick später ging er steif an Reihen aufmerksamer Gesichter vorbei zu den mit Teppichen ausgelegten Stufen und den überfüllten Stehplätzen. Er drehte sich um und warf einen letzten Blick auf die Bühne.
Das Gefühl blieb, auch aus dieser Entfernung. Er ging an den erstarrten Platzanweisern vorbei und erreichte das Foyer. Dort, in dem jetzt leeren, stillen Vorraum, in dem es noch nach Zigarrenrauch und Parfüm roch, zündete er sich eine Zigarette an.
Er war der einzige Mensch im ganzen Foyer. Hinter ihm tönten durch die halbgeöffneten Türen die Laute, Stimmen und Instrumente eines Wiener Symphonieorchesters. Er ging ruhelos hin und her. Seine Unruhe ließ sich nicht beschwichtigen und war auch von Ninas empörten Blick nicht gerade gedämpft worden. Er hatte diese Miene schon öfter gesehen; er wußte, was sie zu bedeuten hatte. Er würde Erklärungen geben müssen. Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Wie sollte er das erklären?
Vor den Eingängen des Opernhauses erstreckte sich, in trostloser Stille versunken, die nächtliche Straße. Auf der anderen Seite standen düster aussehende, verlassene Bürogebäude, die über das Wochenende abgesperrt waren. In einem Eingang brannte Licht. Auf der Straße lagen Haufen von Abfall, der vom Nachtwind zusammengeweht worden war. Plakate, Papierfetzen, Stadtmüll in allen Abarten. Sogar von seinem Platz aus, hinter den dicken Glastüren, konnte Cussick die Buchstaben auf einem zerknüllten Plakat erkennen.
›Patrio
Sammlung in der ma Jones wird öffentliche Einl‹
In der Mitte durchgerissen, lag das Plakat auf der Straße. Aber für jedes einzelne, das die Polizei abgerissen hatte, hingen noch tausend andere an Wänden und Eingängen, in Restaurants, an Schaufenstern, in Bars, Toiletten, Tankstellen, Schulen, Büros, Privathäusern. Der Rattenfänger und seine Herde… Der Gestank brennenden Benzins.
Als sich tosender Schlußapplaus erhob, wurde Cussick aufmerksam. Schon hasteten die ersten Zuschauer durch die Türen; Logenschließer tauchten auf und öffneten die Ausgänge. Die Vorhut des Publikums strömte heraus. Lachend und durcheinandersprechend schlüpften wohlgekleidete Bürger in ihre Mäntel und schlenderten dann in das Foyer. Die breiten Treppen nahmen das weniger vornehme Publikum auf. In wenigen Augenblicken war Cussick von einer dichten Menge sich unterhaltender, murmelnder und gestikulierender Menschen umgeben.
Nina zwängte sich zu ihm durch.
»Hallo«, sagte er verlegen.
»Was war los?« fragte Nina halb besorgt, halb empört. »Hast du einen Anfall gehabt?«
»Tut mir leid.« Es war schwer, ihr das zu erklären. »Das Bühnenbild im letzten Akt hat mich an etwas erinnert. Trist, sozusagen. Leute, die im Dunkeln herumkriechen.«
Nina sagte leichthin: »An deinen Dienst? Vielleicht an Polizeigefängnisse?« Ihre Stimme klang scharf und anklagend. »Schuldbewußtsein?«
Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß.
»Nein, das ist es nicht.« Anscheinend hatte er zu laut gesprochen; ein paar Leute drehten sich neugierig um. Cussick biß die Zähne zusammen und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Sprechen wir ein andermal darüber.«
»Na gut«, sagte Nina lächelnd. »Keine Szenen – nicht heute abend.« Sie drehte sich um und betrachtete die Menschen. Die steile Falte auf ihrer Stirn verriet, daß sie noch immer beunruhigt war. Daran gab es für ihn keinen Zweifel. Aber der Zusammenstoß war verschoben.
»Es tut mir leid«, wiederholte Cussick unsicher. »Es ist dummes Zeug. Das dunkle Bühnenbild hat mich an die bekannten Dinge erinnert. Ich vergesse immer, daß die Szene nachts spielt.«
»Mach dir deshalb keine Gedanken«, antwortete Nina drängend; sie wollte das Thema beenden. Ihre spitzen Nägel gruben sich in seinen Arm. »Wie spät ist es? Schon
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