Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
trotzig abgewandt. »Wir machen draußen etwas zu essen«, sagte ich. »Du musst nicht mit uns essen, aber mein Bruder macht auf jeden Fall auch etwas für dich.«
»Ihr Schweine habt meinen Vater umgebracht«, sagtte der Junge mit tränenerstickter Stimme.
»Unsinn. Das war doch nur ein Trick, um dir das Gewehr wegzunehmen.«
Er drehte sich um und sah mich an. Erst jetzt sah ich die Platzwunde an der Stirn und die dünne Blutspur, die in seinen Brauen langsam gerann. »Stimmt das auch?«, fragte er. »Schwörst du bei Gott?«
»Das wäre in meinem Fall ziemlich sinnlos, also lasse ich es. Aber ich schwöre bei meinem Pferd. Na, wie hört sich das an?«
»Den Mann auf der grauen Stute habt ihr nie gesehen!«
»Das ist richtig. Wir haben niemanden gesehen.«
Der Junge hatte sich inzwischen etwas gefangen und kletterte über die Bank zu mir. Ich reichte ihm meinen Arm, um ihm herunterzuhelfen. Er war sehr schwach auf den Beinen, wie ich auf dem Weg zum Lagerfeuer feststellte. »Nanu, wer ist denn da von den Toten auferstanden?«, sagte Charlie fröhlich.
»Ich will mein Gewehr zurück«, sagte der Junge.
»Man kriegt nicht immer, was man will.«
»Du kriegst es wieder, wenn wir gehen«, erklärte ich dem Jungen und reichte ihm einen Teller mit Bohnen und Fleisch, den er nicht anrührte. Er starrte nur traurig das Essen an, als sei selbst das nur der Auftakt zur nächsten schlechten Erfahrung.
»Ich habe keine Lust mehr auf diese Scheiße«, sagte er. »Am Ende schlagen mir alle nur auf den Kopf.«
»Sei froh, dass ich dir den Kopf nicht ganz weggeblasen habe«, sagte Charlie.
»Keine Angst, wir schlagen dich nicht mehr«, sagte ich ihm, »solange du keine krummen Sachen versuchst. Und jetzt iss, bevor es kalt wird.«
Der Junge schlang das Essen hinunter und erbrach es gleich wieder. Er hungerte wohl schon länger, und sein Magen war solche Mengen nicht mehr gewohnt. Danach starrte er sein halbverdautes Essen auf dem Boden an, als überlege er, es gleich noch einmal in sich hineinzustopfen. »He, Kleiner«, sagte Charlie, »wenn du das tust, knalle ich dich über den Haufen.« Ich gab dem Jungen also den Löwenanteil meines eigenen Essens und hielt ihn an, ganz langsam zu essen und sich danach zu entspannen und gut durchzuatmen. Er tat es, und eine Viertelstunde lang passierte gar nichts, auch wenn es in seinem Magen hörbar rumorte. Dann fragte der Junge: »Aber haben Sie jetzt keinen Hunger?«
»Mein Bruder fastet im Namen der Liebe«, sagte Charlie.
Ich wurde rot und schwieg. Mir war nicht klar gewesen, dass er von meiner Fastenkur wusste, und seinem belustigten Blick hatte ich nichts entgegenzusetzen.
Auch der Junge sah mich neugierig an. »Sie haben ein Mädchen?« Ich antwortete nicht. Da sagte er: »Ich habe auch ein Mädchen. Zumindest war sie mein Mädchen, als wir Tennessee verließen.«
Charlie sagte: »Und wie bist du hier gelandet, allein mit drei Planwagen, ohne Tiere, ohne Proviant?«
Der Junge sagte: »Anfangs waren wir noch mehrere. Wir wollten nach Kalifornien zum Goldwaschen, ich und mein Vater und seine zwei Brüder, Jimmy und Tom, und ein Kumpel von Tom und seine Frau. Sie starb als Erste. Sie behielt kein Essen mehr bei sich. Dad sagte, wir hätten sie gar nicht erst mitnehmen dürfen, und da hat er wohl recht. Wir begruben sie und fuhren weiter. Dann gab Toms Kumpel auf, wir durften sogar seinen Wagen und sein Zeug behalten, weil sein Herz war gebrochen wegen der Frau. Er grämte sich und wollte nur noch nach Hause. Als er etwa eine Viertelmeile weg war, gab Tom noch einen Schuss auf ihn ab.«
»Da war die Frau gerade erst unter der Erde?«
»Ja, ein paar Tage danach. Tom war sauer, doch er wollte ihn gar nicht treffen, nur erschrecken. Wenn man sonst schon keinen Spaß hat, sagte er.«
»Nicht besonders nett.«
»Nein. Aber Onkel Tom war noch nie besonders nett, zu niemandem. Er starb als Nächster, bei einer Messerstecherei in einem Saloon. Das Blut plätscherte nur so aus ihm raus, und am Ende lag er drin, wie auf einem Teppich, so sah es aus. Ehrlich gesagt, wir waren nicht traurig, dass er endlich weg war. Mit so einem kann man nicht auskommen, egal, wie man es macht. Mich hat er immer geschlagen, auf den Kopf, und zwar viel öfters als die anderen. Einen Grund dafür brauchte er nicht, er tat es, weil es ihm Spaß brachte. Wenn man sonst keinen Spaß hat.«
»Konnte dein Vater nichts dagegen machen?«
»Daddy hat sie nie in irgendwas eingemischt. Er wollte nur seine
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