Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
Charlie und holte sein Pferd Nimble heraus.
»Fertig?«, fragte er.
Ich sagte aber nichts, sondern bestieg wortlos mein Pferd Tub, das sich weicher anfühlte als zuvor, wackliger. Seine Muskeln waren müde und wollten nicht mehr, zudem irritierte ihn sein halbiertes Sehvermögen, und er drehte den Kopf ständig nach links, um mit dem rechten Auge seinen vormaligen Horizont zu erfassen. Umständlich bugsierte ich ihn auf die Straße, wo er sich aber nur im Kreis bewegte. »Er kommt schon klar«, sagte ich.
»Es ist zu früh. Du kannst ihn noch nicht reiten«, sagte Charlie. »Außerdem braucht er Ruhe, das siehst du doch.«
Als ich die Zügel anzog, hörte er wenigstens auf, sich im Kreis zu drehen. »Jetzt tu nicht so, als wäre dir an seinem Wohlergehen gelegen«, sagte ich.
»Bin ich nicht. Von mir aus kann der Gaul krepieren. Aber wir haben einen Job zu erledigen.«
»Aber sicher, der Job! Das hätte ich beinahe vergessen. Unsere ach so wichtige Aufgabe! Ich könnte endlos darüber reden, über unseren Job. Das Thema wird mich mein Lebtag brennend interessieren.«
Ich merkte plötzlich, dass meine Unterlippe zitterte, so sehr wirkte die Kränkung vom Morgen nach. Ich sah meinen Bruder auf seinem feinen, großgewachsenen Pferd und musste mir sagen, dass er mich nie so geliebt hatte, wie ich ihn geliebt, bewundert und zu ihm aufgesehen hatte. Deshalb zitterte meine Unterlippe, und genau deshalb schrie ich ihn jetzt an, so laut, dass die Leute stehen blieben und glotzten.
»Na klar, der Job! Was sonst! Was sonst kannst du meinen!«
Charlies Augen gefroren vor Verachtung, und Scham erfüllte mich, heiß wie ein Fieberschub. Schweigend wendete er sein Pferd und ritt los. Überall auf der Straße waren Leute, und er bahnte sich seinen Weg durch die vielen Menschen und war bald hinter einem Planwagen verschwunden. Ich versuchte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, aber mein Pferd Tub drehte ständig den Kopf und brach seitlich aus, und es war wirklich kein Vergnügen, daher gab ich ihm energisch die Sporen. Der Schmerz brachte ihn zwar zur Besinnung, doch er keuchte schon im leichten Trab bald so schlimm, dass ich mich doppelt schämte. In diesem Moment hätte ich am liebsten alles hingeworfen, mein Pferd Tub, den Auftrag, Charlie, alles. Wäre mit einem neuen Pferd nach Mayfield geritten, hätte mir den Mayfield-Zaster geschnappt und mir mit der blassen Buchhalterin ein neues Leben aufgebaut, von mir aus auch ohne sie. Solange nur alles friedlich war und ruhig und anders als jetzt. Das war mein Traum, und es war ein mächtiger, lebendiger Traum, doch ich tat nichts, um ihn zu verwirklichen, denn auch mein Pferd Tub machte einfach weiter und trabte und keuchte entsetzlich, bis wir schließlich den Strand erreichten und Charlie einholten und endlich im Schritt auf den Anleger für die Fähre zuritten. Wir kamen an der Stelle vorbei, wo das Pferd an der Winsch verreckt war. Das Tier war teilweise enthäutet, und eine ordentliche Portion des Fleisches war schon aufgefressen. Krähen und Möwen stritten sich um die Reste, hüpften und hackten im bläulich erkalteten Fleisch, das der Wind mit Sand paniert hatte. Natürlich taten auch die Fliegen ihr Möglichstes. Ich spürte diese große Stadt San Francisco im Rücken, aber ich drehte mich nicht mehr um, weil ich mir sagte, dass ich dort eh keinen schönen Aufenthalt gehabt hatte.
Die Fähre war ein kleiner Raddampfer mit dem Namen Old Ulysses , der vorne auf dem Bugdeck einen Koben hatte, wo nicht nur Pferde standen, sondern auch Schafe, Kühe und Schweine. Charlie ließ mich stehen, sobald er sein Pferd Nimble angebunden hatte. Ich folgte ihm nicht, sondern stand bei meinem Pferd Tub, um ihm ein paar nette Worte zu sagen und ihn, wenn auch spät, mit meiner Nähe und Freundlichkeit zu trösten. Eigentlich wollte ich so die ganze achtstündige Fahrt verbringen, aber die See war rau, und die Schweine wurden seekrank, komischerweise nur die Schweine, und nach einer Weile musste ich an die frische Luft. Charlie bekam ich während der ganzen Zeit nicht zu Gesicht, und so passierte weiter nichts von Belang. Außer dass ich eine Frau nach der Uhrzeit fragte. Die Frau musterte mich von oben bis unten und sagte dann: »Ich habe für Sie aber keine Zeit zu erübrigen«, worauf sie sich umdrehte und wegging. Ich kaufte mir bei einem Blinden ein paar mehlige Äpfel und verfütterte sie – Sacramento war schon in Sicht – an mein Pferd Tub. Seine Beine zitterten immer
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