Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
seltsamsten Ort wieder, den man sich denken kann – aber sag jetzt nicht im Gefängnis.«
»Ich wollte es gerade sagen.«
»Ich verrate es dir. Ich wachte mit der Königinmutter aller Whiskey-Kater auf einer Kasernenpritsche auf. Ich war gewaschen und rasiert. Man hatte mir die Haare geschnitten, und ich trug eine Uniform. Das Reveille trompetete in meinen Ohren, dass ich dachte, ich müsse sterben, aus lauter Furcht und dem Aufruhr in meinem Kopf. Dann packte mich ein Soldat mit jungem Unschuldsgesicht und rief: ›He, aufgewacht, Hermann. Wenn du noch einmal den Appell verpasst, landest du im Loch!‹«
»Was um alles in der Welt ist mit dir passiert?«
»Das hätte ich auch gern gewusst. Versetz dich in meine Lage: Wie kriegt man so etwas heraus?«
»Indem man jemanden fragt?«
Warm imitierte den Mann von Welt. »Bitte vielmals um Verzeihung, mein Herr, aber haben Sie eine Erklärung dafür, wie ich bei der Armee gelandet bin? Mir liegt es auf der Zunge, aber ich komme einfach nicht darauf.«
»Zugegebenermaßen eine etwas komische Gesprächseröffnung«, räumte ich ein. »Aber was wäre die Alternative? Du kannst doch nicht so tun, als sei alles in bester Ordnung.«
»Aber genau das tat ich, machte einfach mit und tat, was mir gesagt wurde. Du darfst nicht vergessen, ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich in diese Kaserne gekommen war. Dabei ist man als Trinker an Gedächtnislücken gewöhnt. Manchmal fehlten mir ein, zwei Stunden, ein andermal an ein ganzer Abend. Diesmal allerdings hatte ich nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie ich all die Kameraden kennengelernt hatte, für die ich allem Anschein nach kein Unbekannter war. Wie kann man sich an eine so drastische Veränderung der Lebensumstände nicht erinnern? Also hielt ich es zunächst für das Beste, die Schnauze zu halten und alles geschehen zu lassen, bis ich Genaueres wusste.«
»Und?«
»Wie sich herausstellte, war es das Werk jenes Soldaten mit dem unschuldigen Gesicht. Er hieß Jeremiah und machte sich ab und zu einen Spaß daraus, versoffene Taugenichtse aufzulesen. Diese füllte er erst mit Schnaps ab und entlockte ihnen bei dieser Gelegenheit so viele persönliche Informationen wie möglich. Lag dann der Mann in seinem Rausch, schleppte er ihn in die Kaserne, verpasste ihm eine Uniform und steckte ihn ins Bett. Das war auch mit mir geschehen.«
»Du warst bestimmt wütend, als du merktest, wie er dich verladen hat.«
»Nicht so sehr, wie man denken könnte. Denn nach und nach wurde mir klar, dass es mir bei der Armee besser ging. Das Soldatenleben brachte in meinem Fall viele positive Veränderungen mit sich. Zum Beispiel musste ich mich dort waschen, was ich anfangs gar nicht mochte aber wohl oder übel hinnehmen musste. Die ungewohnte Körperhygiene veränderte in der Folge sogar meine Selbstwahrnehmung, das heißt, ich betrachtete mich nicht länger als wandelndes Stück Scheiße. Regelmäßige Mahlzeiten, bequeme Betten, beheizte Mannschaftsbaracken und am Abend ein kleiner Drink taten ein Übriges, mich allmählich gesunden zu lassen. In der Freizeit spielten wir Karten und sangen, das war unser Leben, Soldaten sind ja nicht anspruchsvoll. Die meisten haben keine Familie mehr, sind ganz allein auf der Welt und verbünden sich daher gern mit ihresgleichen. In Friedenszeiten hat man als Soldat nicht viel zu tun, und so vergingen sechs oder sieben wunderbar ereignislose Monate, bevor ich mich fragte, wie ich je wieder freikam. Da widerfuhr mir das Glück, die Bekanntschaft von Oberstleutnant Briggs zu machen. Wäre ich ihm nicht begegnet, säßen wir heute nicht hier und hätten nicht den Zugriff auf einen Fluss voller Gold.«
»Was ist geschehen?«
»Das will ich dir erzählen. Eines Abends kam ich an der Unterkunft von Oberstleutnant Briggs vorbei, und die Tür stand offen, was normalerweise nicht vorkam. Wie die meisten anderen war ich neugierig, was diesen Mann mit den grauen Haaren und dem abwesenden Blick betraf, denn er war ganz anders als die üblichen Schleifer, die den ganzen Tag lang nur herumbrüllten. Briggs dagegen hielt sich eher im Hintergrund, das heißt, er verbrachte die meiste Zeit in seiner Unterkunft. Was er dort machte, wusste keiner so recht, was umso erstaunlicher ist, da Geheimnisse bei der Armee nie lange geheim bleiben. Die Gelegenheit war also günstig. Ich öffnete die Tür ein Stückchen weiter und spähte hinein. Und jetzt rate mal, was ich dort sah.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Dann
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