Die Söhne.
seinem Einzelwesen festhält. Gamaliel ist nicht sein Feind. Er achtet ihn, niemals würde er ihn kränken, wenn er ihm, einzelner dem einzelnen, gegenübersäße. Aber da sitzt er, Verkörperung der Gemeinschaft und also der Gemeinheit, und fühlt sich im Recht.
Der Bock, den man früher in die Wüste gesandt hat, um die Sünde loszuwerden, hat es nicht geschafft, und der Jesus der Minäer, der der Bock sein wollte, das Lamm, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, hat es auch nicht geschafft. Denn warum sonst sollte Jahve ihm auflegen, was er ihm auflegt?
Wenn einer hier unter diesen Doktoren, dann will er die Minäer schonen, dann hat er Verständnis für die Weite und Milde ihrer Lehre. Jetzt wollen sie, daß gerade er sie verfluchen und aus der Gemeinschaft ausstoßen soll.
Es ist eine bittere Wahl. Er soll wählen zwischen Judentum und jüdischer Kirche und weiß doch, daß Judentum nicht möglich ist ohne diese Kirche.
Er kennt genau Gamaliels Beweisführung: wir sind gezwungen, einen Teil der Wahrheit preiszugeben, wenn wir sie nicht ganz preisgeben wollen. Ist aber die Wahrheit noch die Wahrheit, wenn ein Teil von ihr verleugnet wird? Aber hat nicht doch wieder Gamaliel recht: kann die Wahrheit bestehen, wenn nichts da ist, in dem sie sich verkörpert?
Langsam hebt er die Hand, streicht sich, immer ohne Gamaliel aus dem Aug zu lassen, über die kahle Stirn, zupft mit mechanischer Bewegung an seinen Brauen, sie glättend. Sie haben es höllisch schlau angefangen, Gamaliel und seine Genossen. Wenn er tut, was sie von ihm verlangen, wenn er denen flucht, denen er wohlwill, dann klagen ihn die Minäer mit Recht an, er sei der Mann, der sie ausgestoßen. Und wenn er es nicht tut, dann stoßen die andern ihn aus, und mit Recht; denn dann ist neuer Vorwand da für die Römer, der Lehre zu mißtrauen und sie zu verfolgen. Und ob er es tut oder nicht tut, in jedem Fall ist neue Spaltung in Israel.
Noch immer sitzt er vollkommen still, ein stattlicher Mann. Aber auf ihm ist eine ungeheure Last, wie damals am Versöhnungstag, als er nach seiner Wanderung mit Stab und Ranzen und Geldbeutel die Stufen des Lehrhauses erstieg, eine Schwere und Müdigkeit, ein unzähmbares Verlangen, nicht weiter zu denken, sich fallen zu lassen, in eine Ohnmacht zu entfliehen. Aber wie damals weiß er auch heute, daß er dieser Sehnsucht nicht nachgeben darf, daß er hier sitzen bleiben muß, den andern zu Ende hören und antworten.
Doktor Helbo ist mit seiner Rede fertig. Alle jetzt schauen auf Ben Ismael. Nach einem endlosen Schweigen sagt Gamaliel: »Ich bitte den Doktor und Herrn Ben Ismael, sich zu äußern.«
Ben Ismael steht nicht auf. Er hält sich ruhig, man sieht ihm nicht an, daß er nicht aufstehen kann. Aber sein großer Kopf mit der kahlen Stirn ist überaus blaß. Und seine tiefe Stimme klingt hohl und rostig, als er schließlich erwidert: »Ich werde das Gebet abfassen.«
Josef, bis in seine Grundfesten erbittert über die Brutalität, mit der man den milden Ben Ismael gezwungen hatte, seine eigene Sache zu verraten, ging zu dem Großdoktor. Scharf nagte ihn die Reue, daß er in Cäsarea nicht für die Universität Lud gesprochen hat. Er war entschlossen, Gamaliel ins Gesicht zu sagen, was er über seine Methode dachte, und ihm das angebotene Amt vor die Füße zu werfen. Ihn ekelte vor seiner Politik.
Der Großdoktor unterbrach seine wilde Anklagerede mit keinem Wort. »Sie sind so jung und ungestüm«, sagte er, als Josef zu Ende war, und in seiner Stimme war Müdigkeit, Ironie und Neid.
»Sie haben mir erklärt«, beharrte finster Josef, »hier in diesem Raume haben Sie mir erklärt, Sie würden die Minäer nicht antasten, wenn diese nicht das Zeremonialgesetz antasten.«
»Sie haben es angetastet«, erwiderte der Großdoktor. »Ich habe zuverlässige Berichte, daß sie in Antiochien, in Korinth, in Rom nach dem Vorgang eines gewissen Saulus oder Paulus lehren, an das Gebot der Beschneidung seien nur diejenigen gebunden, die vom Judentum zu ihnen übergingen, nicht aber die Heiden, die sich zu ihnen bekehren.«
Josef erinnerte sich gewisser Worte Jakobs des Wundertäters. »Selbst wenn einzelne ihrer Prediger das lehren sollten«, wandte er zögernd ein, »ist es nicht nur eine vorläufige Maßnahme, um dem Verbot der Römer auszuweichen?«
»Das ist mir zu minäisch gedacht«, lehnte scharf der Großdoktor ab, und sein höfliches Gesicht wurde hart,
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