Die Somalia-Doktrin (German Edition)
denn?«, fragte Jim.
Maxine saß schweigend neben ihm und rieb sich die Schläfe. Sie nahm eine Haarsträhne zwischen zwei Finger und begann sie zu drehen.
Eine Stunde später machte Jim am Horizont das IDP-Lager aus. Von weitem glich es allen anderen Camps dieser Art. Er hatte sie auf der ganzen Welt gesehen: ein Meer von behelfsmäßigen Hütten und Persenning, umgeben von Kilometern von Metallzäunen. Als sie jedoch weiterfuhren, begann sich dieses Camp auf fast schaurige Art von den anderen zu unterscheiden. Weder kamen schreiende Kinder auf sie zugelaufen, noch scharten sich deren Mütter um sie.
Dann sah er warum.
Zu ihrer Linken, neben einer der Hütten, lag ein Haufen Leichen. Ausgemergelte Kinder krochen über die Erde auf der Suche nach etwas Essbarem. Einige wiesen deutlich die Zeichen von Kwashiorkor auf, einer Krankheit, die auf chronischen Proteinmangel zurückzuführen ist: rotes oder weißes Haar, aufgedunsene Bäuche, schuppige, mit von Ausschlägen übersäte Haut. Sie würden mitten unter der afrikanischen Sonne letztlich an Unterkühlung sterben, weil ihr Körper keine Wärme zu bewahren vermochte.
Einige zaundürre Männer saßen in sich zusammengesunken gegen einen großen Container mit dem UA-Logo gelehnt und starrten in die Ferne. Sie waren zu geschwächt, um sich zu bewegen. Jim verspürte den Drang, sich zu übergeben; der Gestank von Fäulnis und Tod war einfach überwältigend.
Maxine blickte verdrossen hinüber. »Das ist ja noch schlimmer als beim letzten Mal.« Sie drückte auf einen Knopf an ihrem Walkie-Talkie. »Okay, wir stoppen hier. Ihr wisst, was zu tun ist.«
Die Hilfsmaschinerie lief an. Entwicklungsarbeiter stiegen aus den Trucks. Stapelweise wurden Getreidesäcke abgeladen. Das Ärzteteam begann sich die Überlebenden anzusehen. Jim entdeckte Marie, die BBC-Journalistin, und ihren Kameramann Oliver. Plaudernd machten die beiden ihr Equipment einsatzbereit.
Er schlenderte hinüber. »Hi. Ich bin Jim. Kann ich mich anschließen?«
»Sicher«, sagte Marie etwas zögernd, als sie auf eine der Hütten zutrat. »Aber lauf uns nicht ins Bild.«
»Keine Bange. Ich war selbst Journalist.«
Sie ignorierte ihn.
Jim folgte ihr in die Hütte. Sie blieben einige Augenblicke stehen, bis die Augen sich an das Duster im Innern gewohnt hatten. Die Luft war stickig, zum Schneiden dick. Von der Decke hingen Fetzen von Plastikfolie. In einer Ecke lag ein Haufen zerlumpter, schmutziger Kleidung, daneben eine gebrechliche Frau und zwei Jungs. Die Frau öffnete ihre blutunterlaufenen Augen. Sie streckte eine knochige Hand nach ihnen aus. Jim stand da. Wie eine Welle spürte er seine Hilflosigkeit über sich zusammenschlagen. Die Haut auf dem Gesicht der Frau schien so trocken und dünn, als würde sie unter seinen Fingern zerreißen, wenn er sie berührte. Eines der Kinder zitterte haltlos; das andere lag reglos da; vielleicht war es tot.
»Perfekt«, sagte Marie. Ihr Lächeln enthüllte eine Reihe makellos weißer Zähne. »Oliver, nimm die Fetzen vom Eingang, damit wir mehr Tageslicht kriegen. Stell einen Reflektor in die Ecke, um die Szene aufzuhellen. Ich knie hier nieder und spreche direkt in die Kamera. Sieh zu, dass du sie und die Kinder in den Hintergrund kriegst.« Sie wies auf Jim. »Und du gehst mal aus dem Weg.«
Sie strich über ihre Bluse, um die Falten zu glätten, holte einen Kamm aus der Gesäßtasche und fuhr sich damit durchs Haar. »Alles klar, Oliver? Dann mal los.«
Sie neigte den Kopf in die Kamera und lächelte. Das rote Licht an der Kamera zeigte an, dass sie lief.
Oliver nickte: »Kamera läuft.«
»Ich bin hier in der abtrünnigen Republik Somaliland im Nordwesten von Somalia, wo der Hunger derzeit Hunderttausenden das Leben kostet. Krieg zwischen Clans, wiederholte Dürreperioden und schlechte Ernten haben Millionen der Nahrung beraubt. Während die Vereinten Nationen sich weigern, die Lage als humanitäre Katastrophe einzustufen, ist Universal Action bereits vor Ort, um die Hungernden zu versorgen.«
Oliver hob eine Hand. »Wiederhol das noch mal. Sie bewegt sich aus dem Bild.«
Marie fuhr herum. Die Somalierin kroch auf ihr bibberndes Kind zu.
»Himmel, Arsch und Zwirn!«, schimpfte Marie. »Komm her, du!« Sie riss die Frau grob herum. Die Frau stieß ein Wimmern aus, sank dann rücklings zu Boden und starrte gegen die Decke der Hütte. Marie wandte sich wieder der Kamera zu.
»Ich befinde mich hier in der abtrünnigen Republik–«
»Sie bewegt
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