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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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dann drang der Laut tiefer in sein Bewusstsein, und ihn überlief ein kalter Schauer.
    Er wandte sich langsam dem kleinen Pfaffenhütchen-Busch zu, der über seine Schulter ragte, seit er sich auf den umgestürzten Birkenstamm gesetzt hatte.
    Der Mond stand nun hoch genug am Himmel, um in seinem Schein ein schimmerndes Augenpaar, eine dicke Nase |35| und ein spitzbübisches Grinsen erkennen zu können – ein Gesicht, eingerahmt von einer dichten Blätterkrone.
    Der alte Mann richtete sich auf und trat hinter dem Gebüsch hervor auf die grasbewachsene Lichtung. »Ich dachte schon, du wolltest mich dort hinten erfrieren lassen, Junge«, sagte Leschy. »Du hast eine ganze Weile gebraucht, um mich zu bemerken!«
    Seine Stimme klang brüchig wie die eines alten Mannes, doch gleichzeitig schwangen so viel Energie und Lebensfreude darin, dass Iwan – entgegen aller Vernunft – erneut das Gefühl hatte, ihn anlächeln zu müssen.
    »Hallo, Väterchen!«, sagte er und gab sich alle Mühe, völlig ungezwungen zu klingen, als sei nichts dabei, sich mit einem Waldgeist zu unterhalten. »Ich dachte schon, Ihr kommt nicht.«
    »Du glaubst, ich würde eine Gelegenheit versäumen, jemanden Rätsel raten zu lassen, der sich schlau genug für diesen alten Mann hält?« Der Waldgeist kicherte und setzte sich auf einen alten Baumstumpf.
    Nun, da Iwan Leschy ganz vor sich sah, fiel es ihm schwer, zu begreifen, wieso er den Mann für einen Busch hatte halten können. Seine Kleidung entsprach der in Dörfern üblichen: ein langes Leinenhemd, das an der Taille mit einem Strick gehalten wurde, ausgebeulte Hose und Lapti, die aus Stroh geflochtenen Schuhe, die mit Schnüren an den Knöcheln befestigt wurden. Sein Hut war aus frischen Zweigen gefertigt, die wirkten, als wüchsen sie noch, und der Strick um seine Taille wies einen Saum kleiner grüner Blätter auf, aber im Großen und Ganzen wirkte diese Kleidung nicht besonders außergewöhnlich.
    Bei Leschys Gesicht war das allerdings etwas ganz anderes. Es sah aus, als habe jemand ein Stück knorriges altes Eichenholz genommen und grobe menschliche Züge hineingeschnitzt. Die dunklen, funkelnden Augen lagen tief unter |36| buschigen Augenbrauen, die an Flechten erinnerten. Eine dicke runde Nase hing über dem Spalt eines fast lippenlosen Mundes. Iwan konnte nicht erkennen, ob der Waldgeist Haare auf dem Kopf hatte. Er vermochte lediglich eine bebende Masse von Pfaffenhütchen-Blättern mit rosa and roten Beeren zu erkennen, die ihm wie kostbare, fein gearbeitete Juwelen von Hals und Schultern hingen. Das ergab einen ganz seltsamen Kontrast zu seiner borkenähnlichen Haut.
    Leschys Grinsen war so ansteckend, dass Iwan sich nur schwer konzentrieren konnte.
    »Wie heißt du eigentlich, tapferer Junge?«, fragte Leschy.
    »Iwan.«
    Der alte Mann schmunzelte. »Ich habe schon mindestens ein Dutzend Iwans draußen im Sumpf, Junge! Hast du keinen Spitznamen? Etwas, um dich von den anderen Kikimoras zu unterscheiden?«
    Iwan seufzte. Es war ihm schon immer schwergefallen, Fremden seinen vollen Namen zu nennen. »Iwan der Narr!«, sagte er.
    Leschy warf den Kopf zurück, und sein ganzer Körper bebte, während er schallend lachte. »Der Narr, was?«, brachte er schließlich heraus. »Du kennst die Regeln meines Spiels, oder, mein Junge?«
    »Ja«, antwortete Iwan. »Ich muss drei Rätsel lösen. Dann kann ich von dir alles verlangen, was ich will.«
    »Falsch!« Leschy kicherte wieder, und das Gelächter perlte von seiner Haut ab. »Wenn du sie
nicht
löst, kann ich mit dir in meinem Moor spielen. Ach, ich sehne mich sooooo sehr nach einem neuen Spielkameraden. Die anderen werden mir sooooo langweilig
...
Allein, ein Narr? Ich weiß nicht recht.«
    Er schnippte mit den Fingern, und eine blasse, verschwommene Form erschien vor ihm. Es war die geisterhafte Gestalt eines haarigen nackten Mannes. Einst musste er sehr |37| groß und stark gewesen sein. Jetzt wirkte er knochig, und die Haut hing von seinem Körper, als habe er innerhalb kurzer Zeit sehr viel Gewicht verloren. In seinen wilden Augen lag ein gehetzter Blick. Iwan erkannte durch den verschwommenen Körper des Mannes hindurch die Silhouette des dahinter liegenden Waldes.
    Der Mann betrachtete Leschy mit der Furcht eines Hundes vor dem Stock seines Herrn.
    »Was meinst du, Nikola der Weise?«, fragte Leschy. »Möchtest du mit Iwan dem Narren spielen? Ist er schlau genug für uns?«
    Der Schattenmann wandte sich zu Iwan um. Einen Augenblick

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