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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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dringend geputzt werden. Der untere Teil jedoch ergab keinen Sinn.
    Die Isba stand auf einem Paar dicker Balken, die unten in dreibeinigen Ständern ausliefen, so dass sie wie riesige Vogelfüße aussahen. Und während Iwan fasziniert zusah, bewegten sich diese Beine Schritt um Schritt, als liefe ein gigantisches viereckiges Hühnchen über den Hof.
    Ein Hühnchen mit einem Haus auf dem Buckel.
    »Eins muss ich dir sagen«, raunte der Wolf Iwan ins Ohr. »Du musst das Sprechen allein übernehmen.«
    »Warum denn?«
    Der Wolf sah zur Seite. Einen Augenblick lang erschien er beinahe verlegen. Dann funkelte er Iwan an: »Weil ich es sage! Wir müssen schließlich das in Ordnung bringen, was du angerichtet hast.«
    Iwan zuckte die Achseln. Es hatte keinen Sinn, sich zu streiten. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Haus mit den Hühnerbeinen. Es schritt ein Stück weiter und blieb dann stehen, als bemerke es die Eindringlinge erst jetzt. Das trübe Fenster beobachtete sie wie ein misstrauisches Auge.
    Iwan trat vor.
    »Äh«, begann er, »wärst du vielleicht so nett, mir deine Tür zuzuwenden, kleines Haus?«
    |147| Das Gebilde schien zu zögern. Dann drehte es sich langsam um, und eine grobe Holztür wurde sichtbar. Sie schwang auf. Iwan bemerkte, dass sie nur an einem Scharnier hing.
    Plötzlich knickten die Hühnerbeine ein, und das Haus setzte mit einer leichten Erschütterung auf dem Boden auf. Vorsichtig näherte Iwan sich der geöffneten Tür.
    »Ist irgendjemand da?«, rief er.
    In der Düsternis drinnen raschelte es. Dann sagte eine Stimme: »Rieche ich frisches Fleisch? Ist etwa junges Menschenfleisch von allein zu einer alten Frau gekommen?«
    Iwan zögerte. Die Stimme klang überhaupt nicht alt. Sie hätte zu einer gesunden, kräftigen Matrone gepasst, wie sie am Dorfbrunnen die Meinungen der anderen dominierte. Doch der Erzählung des Katers nach war die Baba Jaga ein altes Weib. Eine Frau, so alt wie die Bäume.
    Wie sollte er sie anreden? Falls sie wirklich so alt war, sollte er sie respektvoll als »Großmütterchen« titulieren. Und falls sie jung war, wären »Mütterchen« oder sogar »Schwesterchen« angebracht. Machte er es falsch, mochte sich dieser Besuch als nutzlos erweisen.
    Iwan holte tief Luft. »Darf ich eintreten, altes Mütterchen?«, rief er.
    Es gab eine kurze Pause, dann raschelte es erneut und ein leises Lachen erklang.
    »Frischfleisch, das eine Frau beleidigt, indem er sie als alt bezeichnet, obgleich er sie gar nicht sehen kann!«, bemerkte sie. »Nun, es macht mir nichts aus. Unhöfliche Jungen schmecken genauso gut wie höfliche. Wenigstens hat er den Weg bis zu meinem Kochtopf gefunden. Das gefällt mir. Vielleicht hättest du die Güte, mir gleich etwas Feuerholz mitzubringen?«
    Iwan trat weiter vor und spähte hinein. Es war ein sehr schmutziger kleiner Raum. Die gesamte Wand zur Linken wurde von einem Kachelofen eingenommen, wie er auf dem |148| Land üblich war. Das flache Oberteil, Leshanka genannt, der wärmste Ort im Haus, diente als Bett. Es war breit genug, dass zwei Menschen darauf Platz hatten.
    Eine alte Frau, so alt wie die Bäume, lag lang ausgestreckt auf der Leshanka. Ihre Haut war dunkel und runzlig wie Borke. Ihr Haar war verwirrt, das Gesicht mit Ruß verschmiert, doch ihre Augen blitzten den Besucher hell an, als sie ihn musterte.
    »Ein Hübscher«, stellte sie fest. »Komm näher, Junge! Ich will fühlen, wie zart du bist. Meine Zähne sind nicht mehr so gut wie früher, weißt du. Der letzte Junge, der hier endete, war viel zu knochig für die alte Hex.«
    Sie schob eine Hand unter ihrer Decke hervor, und Iwan sah, dass sie einen großen Knochen in den knorrigen Fingern hielt. Er war sich nicht ganz sicher, aber der Größe nach mochte es sich um einen Menschenknochen handeln.
    Iwan schauderte. »Warum solltest du mich essen wollen, altes Mütterchen?«, fragte er, weiterhin um einen höflichen Umgangston bemüht. Ihrem Aussehen nach hatte er die richtige Anrede gewählt. Er machte sie nicht uralt, indem er sie als »Großmütterchen« bezeichnete, aber er respektierte ihr Alter mit der Bezeichnung »
altes
Mütterchen«.
    »Warum denn nicht?«, fragte sie in einem Tonfall, der ernsthaftes Interesse verriet.
    »Weil
..
.
«, er fand die richtigen Worte nicht. Wie sie es gesagt hatte, ergab die Frage durchaus einen Sinn. »Ich könnte dir lebendig mehr nutzen.«
    »Nutzen?« Wieder lachte sie leise. »Wofür denn?«
    Iwan sah sich erneut hilflos im

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