Die Sonnwendherrin
Raum um. Unter der dicken Staubschicht war der Fußboden kaum zu erkennen. Das Fenster war derartig verdreckt, dass es fast keinen Lichtschimmer durchließ. Der mächtige Kochtopf auf dem Metallrost des Ofens war so mit Ruß und Fett verschmiert – man vermochte seine Form beinahe nicht zu erkennen. In der |149| Luft hing ein muffiger Geruch nach Schmutz und Vernachlässigung. Er war zwar nicht überwältigend, doch nach der Frische der Waldluft draußen nahm Iwan ihn nur allzu deutlich wahr.
»Ich könnte helfen, dein Haus sauber zu machen«, schlug er vor. »Das scheint seit einiger Zeit schon niemand mehr gemacht zu haben. Deine Tür könnte ich ebenfalls in Ordnung bringen. Und vielleicht frisches Gras in deine Matratze stopfen. Sie sieht aus, als habe sie es nötig.«
Sie überlegte. »Mal einer, der liebe Worte findet«, meinte sie dann. »Sehr nett von dir, Junge, aber du hast nichts davon erwähnt, mir etwas zum Essen kochen zu wollen. Und wenn ich verhungere, brauche ich wohl kein sauberes Haus mehr, oder?«, schmunzelte sie.
»Ich könnte wilde Kaninchen jagen«, schlug Iwan vor.
»Kaninchen!« Sie schmatzte. »Weißt du, die schmecken aber nicht so gut wie Menschenfleisch. Nicht süß genug. Doch zart sind sie, und wenn du Rote Bete in den Eintopf gibst, werden sie vielleicht süß genug für eine alte Frau sein. Aber«, sie schüttelte den Kopf, »du bist genau wie die anderen dummen Jungen. Versuchst, eine alte Frau übers Ohr zu hauen. Du glaubst, ich schicke dich auf die Jagd nach Kaninchen, und dann rennst du weg. Nein, Junge, du bist für den Kochtopf bestimmt!«
»Ich bleibe da!«, versicherte Iwan ihr. »Ich renne nicht weg. Mein Freund fängt für dich die Kaninchen, während ich putze. Wie viele möchtest du haben?«
»Dein Freund?« Sie kletterte von ihrem Ofenbett herab und ging zur Tür, um hinauszuspähen. Dabei konnte Iwan ihre Augen zum ersten Mal richtig erkennen. Sie waren gelb, und die Pupillen verliefen senkrecht. Wie bei den Augen des Wolfs.
»Wo ist er denn?«, fragte sie.
Iwan wandte sich um. Der Wolf war nirgendwo zu sehen.
|150| Marja
Der dunkelblonde Zopf des Mädchens war nun in voller Länge sichtbar. Er reichte ihr fast bis zu den Knien. Ich hatte recht gehabt: Ihr dickes Haar war schön, wenn sie es löste. Es gab ohnehin nur sehr wenige Mädchen, deren Haar kräftig genug war, um zu solcher Länge zu wachsen. Ihr Gesicht war noch immer vom Weinen verschwollen. Ihre scheuen blaugrauen Augen musterten mich ängstlich.
»Wie heißt du?«, fragte ich und sah zu, wie sie in die Mitte des Zimmers schritt, so wie ich sie angewiesen hatte. Ihr Gang gefiel mir – ihre Füße glitten über den Boden, wobei sich Kopf und Schultern auf einer Ebene vorwärtsbewegten und sich nicht bei jedem Schritt hoben und senkten. Die Dorfmädchen lernen diese Gangart, indem sie einen Koromyslo auf den Schultern tragen, den kurzen Balken, an dessen Enden jeweils ein Eimer mit Wasser hängt. So holen sie das Wasser vom Brunnen, und diese gleichmäßigen, gleitenden Schritte lassen während des manchmal langen Weges viel weniger Wasser aus den Eimern schwappen. Wenn ihnen das in Fleisch und Blut übergegangen ist, wirken manche Bauersfrauen erheblich eleganter als viele adlige Damen.
»Ich heiße Aljona, Herrin«, sagte das Mädchen leise, beinahe flüsternd. Sie war äußerst eingeschüchtert, sowohl durch meine Anwesenheit als auch durch das, was sie morgen Abend erwartete. Doch ich musste mich vergewissern, dass sie auf jede Weise geeignet war und sich willig fügen würde.
|151| »Wie alt bist du, Aljona?«, fragte ich mit weicher und sanfter Stimme, damit sie sich etwas beruhigte.
»Ich werde nächste Woche siebzehn, Herrin. Ich meine
...
ich bin sechzehn.« Letzteres flüsterte sie nur noch, und zwei dicke Tränen rollten über ihre Wangen.
Ich nahm das Mädchen bei beiden Händen und ließ ein wenig von meiner Kraft in sie überfließen, worauf sich ihr Zittern legte. So hatte es mir mein Vater beigebracht. Wer wusste besser als er, wie man ein ängstliches Mädchen beruhigt?
»Aljona, du weißt, dass es eine große Ehre ist, für die Sonnwendfeier erwählt zu werden«, sagte ich ruhig. »Du wirst zum Wohle unseres Landes geopfert und hilfst damit allen Dörfern im Königreich, ein weiteres Jahr zu überdauern. Nur die schönsten und würdigsten Mädchen des Landes erfahren diese Ehre.«
»Ich fühle mich geehrt, Herrin.« Wieder rann eine – diesmal kleinere – Träne ihre
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