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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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verliehen und einen so benommen machten, wenn der Trank seine magischen Kräfte voll entwickelte. Nun war es wichtiger denn je, dass ich mich von allem vollkommen distanzierte, denn in diesen Augenblicken war ich dem Einfluss von Gefühlen gegenüber am verwundbarsten und musste mich zugleich am stärksten auf meine Aufgabe konzentrieren.
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Du darfst sie nicht nennen, doch kennst du sie gut,
    wirf sie hinein in den brodelnden Sud.
    Ich fühlte mich ein wenig desorientiert, als ich die letzte Zutat hineinwarf und in meinem Kopf zugleich die letzte Zeile des Reims aussprach. Der Trank der Liebe war vollendet.
     
    Aljona sah wunderschön aus in ihrem zeremoniellen Gewand, das meinem ähnlich war: ein langes weißes Kleid, ein Kranz aus Lilien als Krone auf ihrem langen Haar. Sie wirkte ein wenig geisterhaft, beinahe transparent, als eine kleine Prozession von Männern und Frauen sie aus dem Schloss über die Lichtung führte, alle mit einer brennenden Kerze in der Hand. Mein Kuss leuchtete auf ihrer Stirn wie ein fünfzackiger Stern. Ihre Augen waren geschlossen, und mein Vater, der hinter ihr herschritt, führte sie vorsichtig.
    Sie ist eine herrliche Gabe für die Sonnwende,
dachte ich.
Wie die anderen vor ihr, und wie die, die nach ihr kommen werden, Jahr für Jahr.
    Als die Prozession vor mir Halt machte, nahm ich einen Schluck des bittersüßen Gebräus und reichte – obwohl ich stark gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen hatte, das der Trank verursachte – Aljona einen Schöpflöffel voll, den sie austrinken sollte. Mein Vater und zwei Dienerinnen mussten sie zu mir geleiten und stützen, bevor sie mit bebenden Lippen einen Schluck nahm.
    Wenigstens weint sie nun nicht mehr,
dachte ich.
Ich hoffe, sie hält bis zum Ende durch.
    Als sie den bittersüßen Trank schluckte, zitterte sie von Kopf bis Fuß, und dann, von den Händen meiner Frauen geführt, setzte sie sich mit einem letzten Schauder wie eine Schlafwandlerin in Bewegung. Ich gab meinem Vater von dem Gebräu zu trinken, wobei ich kurz seinem undurchdringlichen Blick begegnete, und reichte anschließend jedem |210| der Anwesenden den Schöpflöffel. Dabei versuchte ich mich der Wirkung des Tranks, dessen schwerer Duft in der Luft hing, zu entziehen, soweit das möglich war, bis der mächtige Kessel beinahe leer war und keine weiteren Menschen mehr anstanden, um ihren Anteil zu erhalten.
    Alle drängten sich nun um den Opferteich. Jeder trug eine kleine Kerze, die später in ihre Blumenkränze eingebettet ins Wasser gesetzt wurden und so den Fluss hinabtrieben. Mit ihnen tat man einen Blick in die Zukunft. Trieb der Kranz lange Zeit auf dem Wasser, bedeutete das Glück für den Besitzer. Ging er augenblicklich unter, bedeutete das den Tod. Winzige Lichtpunkte spiegelten sich wie Sterne im stillen Wasser des Sees und bewegten sich nur dann leicht, wenn Wind aufkam.
    Zwei Frauen zogen Aljona das weiße Kleid aus, so dass sie ganz nackt dastand. Sie wurde Kupalo als Braut dargebracht, und das weiße Kleid musste in der Hochzeitsnacht weichen. Ich bewunderte im Kerzenschein ihre Schönheit. Als einfaches Dorfmädchen mochte sie unvollkommen gewesen sein, doch in der Aura der Sonnwendfeier wirkte sie wie eine Göttin oder wie eine unsterbliche Wassernymphe. Alle traten beiseite, als ich zu ihr schritt und meine Hände auf ihre Schultern legte. Dann sprach ich – zum ersten Mal an diesem Abend.
    »Großer Gott Kupalo«, sagte ich feierlich. »Nimm dieses Mädchen als unsere Gabe an dich und als Bitte für das kommende Jahr. Möge die Liebe deinen Untertanen erhalten bleiben, mögen unsere Felder fruchtbar bleiben und möge unser Vieh an Zahl zunehmen, mögest du nehmen, was du benötigst, und uns so viel lassen, wie es dir gefällt.«
    Erneut küsste ich sie auf die Stirn, und diesmal hörte der Stern zu glühen auf. Sie öffnete die Augen, als erwache sie aus tiefem Schlaf, und blickte mich vor Angst zitternd an.
    »Geh!«, flüsterte ich ihr sanft zu, drehte sie um und schob sie in Richtung des Wassers.
    |211| Mit zitternden Beinen tat sie die wenigen notwendigen Schritte und brach dann zusammen. Aber zum Glück war sie schon weit genug gekommen. Sie fiel in den Wasserwirbel hinein, der ihren geschwächten Körper sofort aufnahm. Beinahe augenblicklich war sie im Wasser verschwunden, ohne irgendwie zu kämpfen. Als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug, löste sich ihr Lilienkranz, trieb ein Stück weit und versank dann neben ihr.
    Ich stieß

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