Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Ihr Körper kann einen Gewebeverlust in dieser Höhe nicht kompensieren. Das heißt, dass ich einen Teil des geschädigten Gewebes Ihrer Frau rückführen muss. Das kann fatale Folgen für Sie haben. Ich würde sagen: Fifty-fifty, dass Sie es schaffen.»
«Ist mir egal. Sagen Sie mir einfach, was ich tun muss.»
Der Doktor hat alles schnullimäßige abgelegt, als er Carsten antwortet.
«Normalerweise erfolgt eine Knochenmarkentnahme unter Vollnarkose – und das aus gutem Grund . Dafür haben wir hier aber weder die technischen Voraussetzungen noch das Personal.»
«Egal, was muss ich tun?»
Doktor zu Hülshoff hat Carsten den Rücken gekehrt und ist zu einem Schrank an der Wand geschlendert. Er öffnet die Tür und beginnt, die dahinter befindlichen Schubladen enervierend langsam eine nach der anderen zu öffnen. Schließlich scheint er gefunden zu haben, wonach er gesucht hat, denn er dreht sich um und kommt zurück. In der der Hand hält eine lange blitzblanke Nadel in einer sterilen durchsichtigen Verpackung, auf deren Spitze kleine Reflexe der Deckenbeleuchtung aufblitzen. Carsten bekommt eine Gänsehaut.
«Sie müssen …», der Doktor schafft es nicht, ein hämisches Grinsen zu unterdrücken, «… sehr tapfer sein.»
lxxxviii Unter die Haut
Keuchend hockt Carsten im zweiten Behandlungsstuhl und versucht, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Die Qualen, die mit der Gewebeentnahme einhergehen, erinnern ihn auf unangenehme Weise an die kleinen Aufmerksamkeiten, die ihm die serbischen Schlächter vom Dienst seinerzeit im Kosovo angedeihen ließen, könnten aber auch schlimmer sein. Als Doktor zu Hülshoff die Nadel mit einem holden Lächeln auf den Lippen in seinem Leib versenkte, war er kurz davor, die Waffe, die er aus Sicherheitsgründen auf den Kopf des Doktors gerichtet hatte, abzufeuern. Weiß der Himmel, was ihn davon abgehalten hat. Dagegen war der Stich des Katheders, durch den ein Teil von Mandys Gewebeflüssigkeit in seine herzseitige Vena mediana reinjiziert wird, geradezu eine zärtliche Geste unter alten Freunden. Carsten versucht die Wellen des Schmerzes, die wie eine Horde randalierender Hooligans durch seinen Körper ziehen, zu ignorieren, leider ohne Erfolg. Auch der gelegentliche Blick auf den Monitor, der den Transfusionsfortschritt dokumentiert, ist keine wirkliche Erbauung, denn noch liegt eine weitere Stunde Fegefeuer vor ihm. Eine Stunde, von der er nicht weiß, wie er sie überstehen soll. Die größte Sorge dabei bereitet ihm der Doktor. Trotz aller Beteuerungen, keinesfalls auf ein Experiment mit so geeigneten Probanden verzichten zu wollen, ist Carsten misstrauisch wie die Leiterin einer Jugendherberge während der Nachtruhe. Eigentlich albern, denn wenn Hülshoff vorhätte, sie zu überwältigen, stünden ihm momentan sicher probatere Mittel zur Verfügung, von der Herbeiführung einer hämolytischen Reaktion bis zur Provokation einer Lungenembolie durch Injektion von Luft und was es sonst noch an wirksamen medizinischen Tricks geben mag, um einen lebendigen Patienten in einen Ganzkörperspender zu verwandeln. Weniger aus einem echten Informationsbedürfnis heraus, als vielmehr um sich abzulenken, wendet er sich an den Wissenschaftler.
«Wie lange noch, Doktor?»
«Wie lange was ?»
Carsten fehlt für eine weitergehende Präzisierung seiner Frage zurzeit das nötige Vokabular. Er zieht die Schultern hoch und rührt – soweit der Schlauch in seinem Unterarm es zulässt – mit der Hand in der Luft.
«Das alles hier.»
Doktor zu Hülshoff hat gerade die Prüfung einer Infusionspumpe an Mandys Behandlungseinheit abgeschlossen und kommt herüber zu Carsten, um auch hier den korrekten Sitz der zu- und abführenden Verbindungen zu prüfen. Er weiß, was Carsten gerade durchmacht, und scheint eine gewisse klammheimliche Freude dabei zu empfinden, trotzdem ist sein Ton penetrant sachlich.
«Nun ja …», er wirft einen Blick auf den Monitor, «die Zellmigration wird in fünfundfünfzig Minuten abgeschlossen sein. Dann erst beginnt der eigentlich interessante Prozess der sogenannten Renovationierung . Zu diesem Zweck schießen wir die Bio-Enforcement-Moleküle in die Zellkerne und reichern sie mit unserem Virus an. Kein Mensch kann sagen, wie lange wir brauchen werden. Kann eine Stunde sein, aber auch ein Tag.»
«Bio-Enforcement-Moleküle schießen? Was ist das?»
«Soll das eine ernsthafte Frage sein?»
Carsten nickt nur mit dem Kopf, denn das Sprechen fällt ihm immer
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