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Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)

Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)

Titel: Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heiner Wacker
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lässt sich nun auch Erkan Ederim vernehmen. Er wedelt ein wenig mit dem Lichtkegel herum und löst damit einen wahren Tumult unter den Bewohnern des vor ihnen liegenden Tunnelabschnitts aus. «Blatta orientalis gigantus.»
    «Danke, das reicht jetzt.» In Mandy-Ursulas Stimme schwingt die bei Frauen serienmäßige Angst vor allem, was mehr als fünf Beine hat, mit. Bevor ihre Gefühle von latenter Hysterie in blankes Entsetzen umschlagen können, taucht der Einschnitt zu einem Abzweig in der Dunkelheit vor ihnen auf. Die Öffnung war zugemauert, muss aber gewaltsam von der anderen Seite geöffnet worden sein, wie ein Haufen moderüberzogener, ehemals roter Backsteine, die unter den Laufsteg gerutscht sind, zeigen. Aus dem Loch perlt eine Mischung unheimlicher Geräusche, ein Scharren und Zischen, das leise Gespräch einer Gespensterrunde. Mandy-Ursula wirft einen vorsichtigen Blick in die Dunkelheit vor ihr.
    «Da gehe ich nicht rein. Auf gar keinen Fall.»
    Erkan Ederim lässt Carsten ächzend von seiner Schulter rutschen. Besonders fürsorglich ist er dabei nicht.
    «Wie auch immer und wo auch immer. Aber wir müssen hier weg. In …», er wirft einen Blick auf eine Art Taucheruhr an seinem Arm, «… achtundzwanzig Minuten bricht hier unten die Hölle los.» Er leuchtet Carsten direkt ins Gesicht. «Hast du gehört, Kanalratte. Die Uhr tickt.»
    Carsten kneift die Augen zu. Halb von Erkan Ederim gehalten, halb gegen einen Vorsprung der Tunnelwand gelehnt, bietet er ein Bild ungebremsten Verfalls. Erkan Ederims grunzt etwas Unfreundliches und wuchtet Carsten wieder auf sein breites Kreuz. Bevor die Karawane weiterziehen kann, gibt dieser ein krächzendes Geräusch von sich. Erkan Ederim wendet den Kopf.
    «Hast du was gesagt?»
    «Ja», krächzt Carsten mühsam. «Geh noch mal zurück bitte.»
    «Warum?»
    Carsten befreit seinen rechten Arm aus dem Transportgriff seiner Mitlaufgelegenheit und deutet mit zitternder Hand zurück auf die Tunnelöffnung.
    «Da. Reinleuchten. Höher.»
    Erkan Ederim tut, wie ihm geheißen. Ein Stück in den alten Tunnel hinein ist in Kopfhöhe ein dreckstarrendes, mit seltsamen Hieroglyphen beschriftetes Schild an der Wand angebracht worden. Zeit, Schmutz und Nichtbeachtung haben es nahezu unsichtbar gemacht. Carsten deutet mit dem Zeigefinger auf die Platte.
    «Da, das erkenne ich wieder. Das ist Teil des alten Beschriftungssystems. Ich weiß jetzt, wo wir sind.»

cxviii Arm und reich
    Trotz düsterster Prognosen blieb der große Knall aus. Zumindest in deutschen Landen. Während überall in Europa die armen, erzürnten Ahnungslosen auf die Straße gingen und nach Beschäftigung, Lohn und Anerkennung schrien, daraufhin von den Sicherheitskräften mit anerkennenswert beispielloser Gewalt niedergeknüppelt und zurück in die Gettos gespült wurden, blieb es bei uns gemäßigt bis ruhig. Das mag zum einen daran gelegen haben, dass die hiesige Volksseele schon von jeher obrigkeitshörig war und eher nicht zu öffentlichen Exzessen neigte, war zum anderen darin begründet, dass sich für die Armen der Aufstand nicht mehr wirklich lohnte, die Reichen – schon immer äußerst sparsam, wenn es um die Finanzierung öffentlicher Belange ging – nicht genügend schwer bewaffnete Interessenbewahrer aufbieten konnten, um den neuen alten Klassenfeind in die Schranken zu weisen und um die hier und da aufkeimenden Zellen des Unmuts unnachgiebig auszurotten.
    Nach einer gewissen Zeit des lustlosen Gezerres um die Früchte des einstigen gesellschaftlichen Wohlstands bildete sich die nunmehr etablierte quasi-feudalistische neue Gesellschaftsordnung heraus, eine fast kontaktlose Zweiklassengesellschaft von vielen armen, aber gut gelaunten Schluckern auf der einen und wenigen, extrem wohlhabenden, nicht ganz so gut gelaunten Blutsaugern auf der anderen Seite. Nicht so gut gelaunt deshalb, weil – wie nicht erst Karl Lagerfeld wusste – «zu viel immer noch nicht genug ist». So dümpeln die Armen in ihrer handgezimmerten Tauschwertgesellschaft vor sich hin, während die Reichen – durch unterbezahlte Sicherheitskräfte notdürftig geschützt – in ihren exklusiven Einfriedungen leben und mit den anderen Standesbrüdern und
-schwestern auf diesem Planeten ihre Geschäfte treiben – erfolgreich zwar, aber eben schlecht gelaunt.

cxix The Big Bang
    Mit geschlossenen Augen lehnt Carsten an der Wand des Zugangs zum Hauptsammler Ost II. Sein Atem geht so flach, dass man ihn schon für versiegt halten

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