Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
könnte, allein Mandy-Ursula ist vom Fach – im weiteren Sinn zumindest – und weiß, dass noch Hoffnung besteht, wenn auch nicht mehr viel. Die Reise durch Münsters Unterwelt hatte sich für alle Beteiligten als extrem anstrengend erwiesen. Einerseits, weil Carstens Zustand rapide schlechter wurde, andererseits, weil Erkan Ederims Hilfsbereitschaft durch eine ständige Flut von Schmeicheleien und Drohungen befeuert werden musste. Jetzt ist ihr bedingt freiwilliger Helfer losgezischt um einen fahrbaren Untersatz zu organisieren, denn Carsten kann aus eigener Kraft keinen Fuß mehr vor den anderen setzen.
«Wie gehts dir, Klunckerchen?»
Carsten öffnet vorsichtig die Augen, die Lider bleiben jedoch auf halbem Weg nach oben stecken.
«Super. Ich könnte Bäume ausreißen.»
«Du musst noch ein bisschen aushalten. Wenn wir in Klein-Wilkinghege sind, schnappe ich mir Horsts Werkzeugkasten und bringe dich wieder auf Vordermann.»
«Das wird nichts mehr nützen. Hier hilft nur noch abwracken.»
«Das darfst du nicht sagen, Klunckerchen. Nicht, nachdem alles so gut gelaufen ist.»
«Alles ist gut gelaufen? Na toll.» Er greift Mandy-Ursulas Hand und streicht mit dem Finger über den Handrücken. «Na, wenigstens haben wir dich wieder hingekriegt, und das ist mehr, als ich mir erhofft hatte.»
Wenn es nicht stockdunkel wäre und zu allem Überfluss regnen würde wie in der Startphase der Sintflut, hätte man meinen können, dass Mandy-Ursula weinen würde. Angesichts der Wetterlage bleibt es jedoch bei der Vermutung.
«Ja, das hast du prima hingekriegt. Hätte ich nie gedacht. – Nein, wirklich nicht, das soll jetzt nicht defätistisch klingen. Ich hätte nie gedacht, dass jemand so etwas für mich tun würde. Dass jemand überhaupt etwas für mich tun würde. Ich dachte immer, niemand würde überhaupt jemals noch etwas für einen anderen tun. Außer es springt ordentlich etwas dabei heraus.»
Obwohl es die allgemeine Sachlage nicht hergibt, muss Carsten grinsen.
«Na ja, du bist die Sexgöttin. Herabgestiegen vom Olymp der untadeligen Eigenschaften, um mich, den sterblichen Carsten Kluncker, mit deinen Armen zu umfangen und in den Himmel zu tragen. Mit anderen Worten: Wer hätte denn gedacht, dass ich in meinem Alter noch so viel Glück haben würde. Ich meine, du bist schon …», er führt den Satz nicht zu Ende.
«Und du bist ein Zuckerschnäuzchen. Ein ganz …»
Bevor die Süßholzraspelei einen neuen Level erreichen kann, beginnt der Boden zu schaukeln. Erst ganz vorsichtig, als hätte ein großes Insekt sich auf das Antlitz von Mutter Erde gesetzt und sie gekitzelt, dann kräftiger und kräftiger. Dazu gesellt sich ein tiefer Ton, als würde ein Riese die Basspfeife einer gigantischen Kirchenorgel blasen. Übergangslos wird es hell, Sekunden später bricht die Hölle los. Ein wahnsinniges Crescendo aus Heulen, Bersten, Trommeln und Toben zwingt Carsten und Mandy-Ursula die Hände auf die Ohren zu pressen und sich bäuchlings auf den zuckenden Boden zu werfen. Jetzt wird die Luft von einer unregelmäßigen Reihe von nahezu unerträglich lauten Explosionen geschüttelt. Das Krachen ist so laut wie tausend Gewitter, die mit zehntausend Blitzen um sich werfen. Es dauert lange – wie lange kann niemand sagen – bis der Orkan sich legt. Mandy-Ursula ist die Erste, die sich mühsam aufrichtet und in Richtung Unikliniken schaut. Der Anblick ist formidabel. Eine Sturmfront aus übereinander getürmten gelb-schwarzen Wolkengebirgen hängt taumelnd über dem, was von Münster-West übrig geblieben ist, ein unirdisches Heulen liegt in der Luft, die Böen treiben ersten Brandgeruch hinüber. Obwohl es noch mitten in der Nacht ist, hat man das Gefühl, als würde man Zeuge der unvorhergesehenen Feuergeburt eines neuen, bösen Tages. Mandy-Ursula kriecht hinüber zu Carsten und hilft ihm zurück in eine sitzende Stellung.
«Um Himmels willen, was war denn das? Die Sprengmeister?», flüstert Carsten.
Mandy-Ursula hat die Augen zusammengekniffen und peilt Richtung Westen.
«Keine Ahnung. Vielleicht. Obwohl …», sie macht eine kurze Pause, «… ich denke der Hauptknall ist vom Kraftwerk gekommen. Das Kraftwerk, das den Teilchenbeschleuniger mit Energie versorgt hat. Wehe dem, der nicht rechtzeitig dort weggekommen ist.»
Jetzt mischen sich andere Geräusche unter das allgemeine Heulen und Tosen. Ein heiseres Knattern, das an- und abschwillt. Eine knappe Minute später biegt ein Motorrad mit Beiwagen um die
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