Die Springflut: Roman (German Edition)
liebte es zu schnorcheln. Auch wenn es hier nicht so viel Spaß machte wie in Thailand. In dem relativ trüben Wasser konnte er die Füße seines kleinen Bruders sehen. Er stand auf … ja, auf was? Daniel schwamm näher heran, um es genauer sehen zu können, und die Sicht wurde immer besser. Als er direkt vor seinem Bruder war, erkannte er, worauf sein Bruder stand.
Lena Holmstad war am Ufer. Sie überlegte, ob sie ihr Hörbuch weiterhören sollte. Plötzlich sah sie Daniels Kopf mit einem Schrei aus dem Wasser schießen.
»Mama! Da unten ist ein Auto! Er steht auf einem Autodach! Da sitzt ein Mann drin!«
*
Es war fast elf. Sie hatte gut acht Stunden geschlafen wie ein Stein. Quer auf dem Bett liegend, in voller Montur. Sie hasste es, angezogen aufzuwachen, riss sich die Kleider vom Leib und wollte schon unter die Dusche steigen, als ihr wieder alles einfiel.
»Elvis!?«
Es war kein Elvis in der Wohnung. Sie sah auf den Hof hinaus.
Kein Kater.
Sie duschte und ließ das lauwarme Wasser einen Teil ihrer nächtlichen Erlebnisse fortspülen, aber was sie bei ihrem Besuch in dem Wohnwagen und im Aufzug erlebt hatte, wurde sie nicht so leicht los. Hatten diese Schweine im Aufzug etwas mit Elvis’ Verschwinden zu tun? Hatten sie das Fenster aufgemacht, damit der Kater weglaufen konnte? Was sollte sie tun?
Sie rief bei der Polizei an und meldete, dass ihr Kater verschwunden war. Er war gechipt, trug aber kein Halsband. Die Polizistin am Telefon gab sich mitfühlend und versprach, sich sofort bei ihr zu melden, wenn sie etwas erfahren würden.
»Danke.«
Sie erwähnte die Schweine aus dem Aufzug nicht, weil sie nicht wirklich wusste, wie sie den Vorfall erklären sollte, ohne auszuplaudern, was sie selber machte: der eleganten Besitzerin einer Boutique im vornehmen Stadtteil Östermalm wegen einer Seminararbeit zu einem ungelösten Mord auf Nordkoster im Jahre 1987 hinterherspionieren.
Das klang nicht sehr logisch.
Dagegen hatte sie vor, zu Stilton hinauszufahren, um zu schauen, wie es ihm ging. Sie hatte das Gefühl, dass er sehr viel schlechter beieinader gewesen war, als er am Vorabend zugegeben hatte. Außerdem überlegte sie, ihm von dem Zwischenfall im Aufzug zu erzählen. Er wusste ja, wer Jackie Berglund war.
Olivia verdrückte auf dem Weg zum Auto ein Knäckebrot mit Kaviarcreme. Das sonnige Wetter besserte ihre Laune ein wenig. Sie öffnete das Verdeck, ließ sich auf den Fahrersitz fallen, setzte die Kopfhörer auf, ließ die vier Zylinder an und fuhr los.
Zum Wald Ingenting.
Das spezielle Gefühl, bei Sonne und Wind in einem Cabrio zu sitzen, tat ihr gut. Das Tempo und der Wind wehten einen Teil des nächtlichen Unbehagens fort. Nach und nach kehrte ihr inneres Gleichgewicht zurück. Sollte sie Stilton vielleicht etwas mitbringen? Dieser Wohnwagen war nicht sonderlich gut ausgestattet gewesen. Sie hielt vor einem Seven Eleven, um ein paar belegte Brote und Teilchen zu kaufen. Als sie aus dem Wagen stieg und an der Motorhaube vorbeikam, stieg ihr aus dem Motorraum ein seltsamer Geruch in die Nase, den sie nicht kannte. Hoffentlich war da nichts angebrannt, ein Riemen oder so, nicht an diesem Tag, nicht nach dieser Nacht. Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen, dachte sie und öffnete die Motorhaube.
Fünf Sekunden später übergab sie sich auf die Straße.
Was von ihrem geliebten Elvis übriggeblieben war, lag verkohlt neben dem Motorblock. Die Hitze im Motorraum während ihrer Fahrt von Södermalm nach Solna hatte den Kater in ein Stück rußendes schwarzes Fleisch verwandelt.
*
Ein Kranwagen war dabei, das graue Auto an den Felsen auf Kärsön aus dem See zu ziehen. Aus der offenen Fahrertür schoss Wasser. Die Leiche war von Tauchern an Land gebracht, auf einer Bahre in einen blauen Sack gelegt und das gesamte Gelände weiträumig abgesperrt worden. Die Kriminaltechniker sicherten auf der Böschung oberhalb der Felsen Reifenspuren.
Und anderes.
Die Frau, die eins der Absperrbänder aus Plastik anhob und sich der Bahre näherte, war vor einer Stunde von der Polizeipräsidentin persönlich benachrichtigt worden. Weil es noch zwei weitere Mordermittlungen gab und viele Kollegen in Urlaub waren, herrschte kurzfristig Personalmangel, so dass Mette Olsäter von der Landeskriminalpolizei gefragt worden war, ob sie einspringen könne. Außerdem hatte Carin Götblad schon immer viel von ihr gehalten. Sie wusste, dass der Fall bei ihr in guten Händen sein würde. Mette hatte in ihrer
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