Die Spur der Hebamme
kniff die Augen zusammen, um keinen Sand hineinzubekommen.
Dennoch hatten fast alle Christiansdorfer ihre Arbeit stehen-und liegengelassen, um zuzusehen, wie der Dieb gehenkt wurde. Aber so mancher von den ersten Siedlern fühlte sich an jenen Tag erinnert, als Randolf Berthas Mann unter falscher Anklage hatte hängen lassen. Nur der Umstand, dass Ritter Christian diesmal mit verschränkten Armen und unbewegter Miene neben dem Burgvogt stand und in keiner Weise eingriff, beruhigte sie.
Ohne Umstände ließ Randolf den Verurteilten aus dem Verlies holen, ebenso seine drei Kumpane, damit sie das Ende ihres Anführers mit eigenen Augen mitansehen mussten.
Er hätte den Gefangenen wirklich lieber gepfählt, aber er war in Eile. Christian und er mussten noch am gleichen Tag nach Meißen reiten. Denn wenn stimmte, was das Diebesgesindel erzählte, hatten sie bald mit einem massiven Angriff zu rechnen. Doch noch mehr trieb ihn der Gedanke an Richenzas ausgeklügelten Plan.
Mit beinahe gelangweilter Stimme verkündete der Burgvogt Vergehen und Strafe. Er winkte Sebastian nach vorn, doch der Pater erklärte, der Verbrecher zeige keine Reue, weshalb er ihm keine Absolution erteilen könne.
Dann zerrten die Wachen des Burgvogts den Verurteilten zum Galgen, der auf Randolfs Befehl hin am westlichen Dorfausgang errichtet worden war, und legten ihm den Strick um den Hals.
»Fluch über dieses Dorf, Fluch über jeden von euch!«, schrieder Todgeweihte. »Meine Brüder werden mich rächen! Ein mächtiges Heer wird kommen und Blut und Tod über diesen Ort bringen!«
Etliche der Umstehenden bekreuzigten sich erschrocken und tauschten ängstliche Blicke aus.
Ungerührt gab Randolf seinen Männern ein Zeichen. Sie traten die Leiter weg, auf der der Verurteilte stand.
Der Mann stürzte ins Leere; er zuckte wie wild und pendelte am Strick durch die ruckartigen, heftigen Bewegungen hin und her, sein Körper verkrampfte sich im schier endlosen Todeskampf, während das Gesicht blau anlief. Schließlich schwang der Gehenkte reglos im Wind. Von den zerrissenen Beinlingen tropfte Urin.
Fachmännisch kommentierten die Zuschauer die Hinrichtung, während sie an ihre Arbeit zurückkehrten. So mancher bekreuzigte sich noch einmal, um gegen den Fluch des Todgeweihten gefeit zu sein.
Als Marthe gehen wollte, bemerkte sie, dass der Wundarzt auf Randolf zuging und etwas mit ihm besprach. Randolf nickte huldvoll. Daraufhin eilte der Wundarzt mit gewichtiger Miene zu dem Leichnam, um die Flüssigkeit aufzufangen, die dem Toten immer noch von den Beinen tropfte.
Urin eines Gehenkten – und später, in der Dämmerung, wird er sich wohl auch noch dessen Blut holen, dachte Marthe verärgert. Beides galt als Wundermittel gegen viele Krankheiten.
Sie hatte bisher keine nähere Bekanntschaft mit dem Wundarzt gemacht. Und er sah offensichtlich keinen Anlass, sie aufzusuchen. Aber dass er sich seine Arzneien vom Galgen holte, ließ Marthes Hoffnung sinken, endlich einmal auf einen Medizingelehrten zu treffen, von dem sie etwas lernen konnte. Schließlich erzählte man sich ganz Erstaunliches darüber, was die jüdischen Ärzte vermochten.
Enttäuscht ging sie zum Haus, um Reiseproviant für Christian, Lukas und Konrad zusammenzupacken. Doch schon nach wenigen Schritten wurde ihre Grübelei über den Wundarzt durch die Sorge verdrängt, wie wohl eine gemeinsame Reise von Randolf, Christian, Lukas und Konrad ausgehen mochte.
Um noch am gleichen Tag Meißen zu erreichen, hatte Randolf befohlen, jeden der drei Gefangenen gefesselt und geknebelt auf ein Pferd zu hieven, das von einem seiner Männer geführt wurde.
Christian und Randolf an der Spitze des Zuges wechselten während des ganzen Rittes kein Wort miteinander. In feindseligem Schweigen ritten sie nebeneinander durch den nasskalten Maitag, während sie die Umgebung nach Anzeichen dafür absuchten, ob ihnen jemand auflauerte.
In der Mitte der Kolonne ritten Randolfs Wachen mit den Gefangenen, das Ende bildeten Konrad und Lukas.
Bis sie den schützenden Wald erreichten, mussten sich die Reiter gegen den Wind stemmen und hatten Mühe, ihre Pferde voranzutreiben.
Als der Trupp die freie Fläche um das Dorf hinter sich gelassen hatte, bat Konrad Lukas durch ein Zeichen, zu ihm aufzuschließen.
»Ist es nicht zu riskant, Christian dort vorn allein bei Randolf und seinen Leuten zu lassen?«, fragte er verhalten – laut genug, dass Lukas ihn verstehen konnte, aber zu leise, als dass die
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