Die Spur der verlorenen Kinder
Kanal schauen«, flüsterte Rusty. »Alle vier. Wir müssen sie überprüfen, bevor er wieder abhaut, Lydia. Nehmen wir die Räder.«
Deswegen hatten sie die Räder hinten in den Truck geladen, doch als Rusty jetzt vorschlug, sie zu benutzen, bekam sie kalte Füße. Peter Wheat machte ihr Angst. Er machte Rusty Angst. Und deswegen hatte sich keiner von ihnen Annie gegenüber richtig verhalten. Rusty hatte gesagt, er könnte zu Joe Bob Fontaine gehen und ihm von den Kindern erzählen, er konnte ihn zu den Gräbern führen. Doch sie wussten beide, dass es in Wirklichkeit nicht ging, denn dann würde er als Mittäter ebenfalls festgenommen werden. Es gab nur eine Wahl – das Mädchen selbst zu befreien. Sie sollten das jetzt tun, während Wheat hier war und irgendetwas ausspionierte. Aber sie würden es nicht tun, bevor sie begriffen, was Wheat wirklich vorhatte. Vielleicht war auch das falsch, doch bevor sie eingriffen, mussten sie es verstehen.
Und um verstehen zu können, mussten sie wissen, welches Haus Wheat so sehr interessierte, dass er hier stundenlang saß und hinüberstarrte. Sie mussten wissen, wer in dem Haus lebte und in welcher Verbindung diejenigen zu Wheat standen, und was das Mädchen, Annie, mit der ganzen Sache zu tun hatte. Teufel, dachte Lydia. Sie musste wissen, ob alle die Kinder, die er mitgebracht hatte, etwas damit zu tun hatten, was in seinem bösartigen Hirn vor sich hin köchelte.
Sie radelten schnell durch die Nacht, hoch auf die knarrende Holzbrücke, auf der anderen Seite wieder hinunter, vorbei an der Straße, in der sich Wheat befand, und dann in die nächste Seitenstraße hinein. Der Mond war noch nicht aufgegangen und da sie beide Schwarz trugen, waren sie praktisch unsichtbar. Rusty war sogar so weit gegangen, dass er ein langärmliges schwarzes Shirt trug – entsetzlich heiß in einer so feuchten Nacht – und sich schwarze Schuhcreme ins Gesicht und auf die Handrücken geschmiert hatte.
Sie überprüften die ersten drei Briefkästen, aber keiner der Namen sagte ihnen etwas. Oskin, Laker, Davidson. Das letzte Haus, das sich auf der Spitze dieser Landzunge befand, war auf zwei Seiten von einem hohen Holzzaun umgeben. Auf dem hölzernen Briefkasten war ein Name eingraviert: Die Wheatons.
»Mein Gott«, flüsterte Rusty. »Wheat – Wheaton. Ich meine, also wirklich, das ist ein zu großer Zufall, Lydia.«
»Es sagt uns gar nichts. Wir müssen hineingehen, uns umsehen, es nachvollziehen.«
Rusty, dessen leuchtend blaue Augen schwarz umrandet waren, starrte sie an wie ein entgeisterter Waschbär. »Er hat mir erzählt, dass seine Familie im Urlaub immer nach Sugarloaf kam.«
»Ja? Und? Selbst wenn das hier seine Familie ist, was beweist das?«
»Ich weiß nicht.«
»Eben.«
Sie schoben ihre Fahrräder hinter die Büsche in der Sackgasse, um sie zu verstecken. Lydia klingelte am Tor, wartete, klingelte noch einmal. Als niemand antwortete, stieß sie das Tor auf, dann schlichen Rusty und sie in den Garten.
»Wir sind verrückt«, flüsterte er.
»Wir müssen es wissen. Ein für allemal müssen wir es wissen.«
Der Garten war groß und schön angelegt, mehrere elegante Palmen streckten sich himmelwärts, sie waren umgeben von anderen kräftigen Tropenpflanzen. Das Haus stand auf Stelzen, es gab viel Platz darunter. Ein Teil war als eine Art Terrasse hergerichtet und von einem Fliegengitter umgeben; der Rest war Lagerraum. Ein Boot lag im Schatten. Fahrräder lehnten an den Wänden. Kajaks lagen auf einem Gestall an der Wand. Keine Autos. Keine Hunde.
Wheat/Wheaton, dachte sie.
Sie huschten durch den Garten, unter das Haus, blieben hinter dem Boot stehen. Ein Teil ihres Hirns kreischte: Wahnsinn, Mädchen, wenn sie dich hier erwischen, landest du im Knast und gehst niemals wieder über Los. Eine schwarze Frau, die in das Haus einer weißen Familie einbrach. Egal, dass sie mit einem weißen Jungen unterwegs war, der ein berechtigtes Interesse daran hatte, die Wahrheit zu enthüllen; die Bullen würden daraus irgendeine Lügengeschichte machen. Schlimmer wäre nur noch, wenn sie ein schwarzer Mann wäre. Oder wenn sie zwei schwarze Männer wären.
Rusty deutete auf eine schmale Treppe, die hoch zu einer Tür führte. Sie nickte und folgte ihm. Sie hasteten eilig die Treppe hoch, und oben drückte Rusty sein Ohr ans Holz und lauschte. »Nichts«, sagte er leise, dann drehte er den Türknauf.
Sie waren drinnen. Eine Küche. Ganz weiß. Alles war weiß. Es war, als befände
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