Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
Vom Netzwerk:
noch nicht stattgefunden. Bill Gates war noch ein Junge und Bill Clinton in den Zwanzigern.
    Keiner der Bushes hatte es bisher ins Weiße Haus geschafft.
    Die Mauer in Berlin stand noch.
    Frauen verbrannten BHs, die Schwulenbewegung steckte noch in den Kinderschuhen, der Kernkraftunfall in Three Miles Island lag elf Jahre in der Zukunft. Es gab keine Handys, keine Videorekorder, keine PCs, keine Palm Pilots, kein Internet, keine E-Mail.
    Der 11. September war noch fünfunddreißig Jahre entfernt.
    Und ihr verstorbener Ehemann, Tom Morales, war ein Teenager und lebte auf den Keys.

Teil zwei

PURPLE HAZE
    »’Scuse me, while I kiss the sky …«
    Jimi Hendrix, Purple Haze

Sieben
    Annie hörte immer wieder dasselbe Geräusch, ein leises, beruhigendes Schsch, wie das Echo des Meeres in einer Muschelschale. Aber es war nicht das Meer. Es waren die Staubmäuse, die um sie herumsprangen, während sie über den Boden kroch. Es waren die Katze, die Schuhe ihrer Mutter, das Geräusch des Atems ihres Vaters. Es war der Klang ihres Herzens, das vor Freude anschwoll.
    Annie, Süße, komm hier lang, rief ihr Daddy. Und als sie auf ihn zukrabbelte, wippte er zurück auf seine Fersen und klatschte in die Hände, als hätte sie das Wunderbarste getan, was er je gesehen hätte. Manchmal kam auch ihre Mami zu ihr auf den Boden, und sie krabbelten alle drei herum wie Käfer, sie liefen aufeinander zu und voneinander weg, sie spielten ein Spiel, dessen Regeln sie nicht ganz verstand. Ihre Mami rief nach ihr, dann rief ihr Daddy, und sie musste sich entscheiden, zu wem sie lieber wollte.
    Sie mochte es am liebsten, wenn beide gleichzeitig auf sie zukrabbelten, sie hochnahmen und durchs Zimmer schwenkten, als wäre sie ein Flugzeug. Sie schmatzte dann und gab Flugzeuggeräusche von sich, und wenn sie sich ganz mutig fühlte, streckte sie auch noch die Arme zur Seite aus wie Flügel, und sie sausten mit ihr durchs Haus.
    Schsch machte ihr Herz.
    Sie legte die Arme an und wurde eine Kugel, ein Schnellzug, Supermann. Jetzt bewegte sie ihre Beine wie ein schwimmender Frosch, und ihr Daddy grinste und kam auf seinem Bauch auf sie zu, auch er bewegte Arme und Beine, als würde er schwimmen. In seinen dunklen Augen sah sie sich selbst, unglaublich klein und glücklich.
    Dann wandelte sich alles, und sie saß in ihrem Kindersitz hinten im Auto, sie schlief beinahe. Sie hörte die Stimme ihres Vaters: Brauchen wir noch etwas, Schatz?
    Nur Milch und Brot, entgegnete ihre Mutter.
    Ich bin gleich wieder da.
    Die Wagentür öffnete und schloss sich, und der Duft der Nacht erfüllte Annie, ein warmer, ruhiger Duft. Es war der Abend ihres dritten Geburtstags, das La-la-la war an, Musik lief, ihre Mami summte mit, und Annie begann, wieder einzuschlafen. Aber irgendetwas stimmte nicht daran, wie ihre Mami summte. So summte sie, wenn sie nervös oder ängstlich war, wenn sie etwas fühlte. Und plötzlich zischte ihre Mami: »Nein, Gott, nein«, und riss die Tür auf.
    Annie war sofort hellwach, sie strampelte mit den Beinen und presste ihre Füße gegen den Sitz, sie wollte sehen, wo ihre Mami hingelaufen war, was los war, warum man sie allein im Auto gelassen hatte. Aber sie konnte nichts sehen, sie konnte sich nicht weit genug hochschieben, und sie begann zu weinen, zu schluchzen, zu heulen. Dann begann sie zu schreien …
    Und ihre Augen öffneten sich.
    Sie lag auf der Seite, die Beine fast bis an die Brust hochgezogen, ihr Körper brannte. Sie tastete nach der Decke, die sie weggestrampelt hatte, und zog sie über ihre Hüfte, ihre Schultern, und trotzdem zitterte sie. Ein Fieber, ich bin krank, richtig krank. Grippe? Bronchitis? Etwas Schlimmeres?
    Und dann fiel ihr alles wieder ein, und sie wusste, dass es schlimmer war als eine Krankheit, schlimmer als die schlimmste Krankheit, die sie je gehabt hatte, als ihr Blinddarm fast geplatzt war. Ich stecke in der Scheiße.
    Sie rollte sich auf den Rücken, stemmte sich hoch auf die Ellenbogen, sah sich um. Sie lag auf einem großen Sofa in einem kleinen Zimmer. Das Licht sickerte durch eine Jalousie, die zwei Fenster verdeckte. Es war hell genug, dass sie erkennen konnte, dass es kein Fernsehen, keinen CD-Spieler, Videorekorder oder Computer gab. Poster hingen an den Wänden – lauter Musiker, so wie es aussah alle aus den Sechzigern. Sie hatte Poster wie diese bei sich zu Hause in ihrem Zimmer hängen.
    Plötzlich begann der Raum, sich zu drehen, und sie richtete sich auf, beugte sich über den Rand

Weitere Kostenlose Bücher