Die Spur der Woelfin
Sie konnte sehen, wie sein massiger Brustkorb
sich unter tiefen Atemzügen hob und senkte, dann machte er wortlos auf dem
Absatz kehrt und verließ unter Türenschlagen den Raum.
»Eins zu null für die Dame«, kommentierte Daniel amüsiert. »Aber
vielleicht solltest du einen Magna-cum-laude-Absolventen der
Wirtschaftswissenschaften nicht als Analphabeten betiteln. Das hat bestimmt
wehgetan.«
Laura, die das nicht gewusst hatte, fuhr überrascht zu ihm herum. »Magna
cum laude? Du nimmst mich auf den Arm. Der Mann kann doch höchstens die Junior
High geschafft haben.«
»Vince hat einen IQ, um den ihn die meisten beneiden würden, wenn sie es
wüssten. Und im nächsten Semester hält er einen Vortrag an der Tulane.
Wahrscheinlich will er sich darauf vorbereiten.« »Er ist intelligent?«
Daniel seufzte, grinste dann aber. »Ungefähr hundertvierzig.«
Laura kicherte. »Ich hab's ja immer gewusst: Genie und Wahnsinn
liegen nah beieinander«, säuselte sie, während
sie versonnen auf die Tür starrte, durch die Vince zuvor verschwunden
war.
»Möchtest du mir das jetzt übersetzen?«
»Nein, möchte ich nicht«, meinte sie, strahlte ihn dabei aber an, sodass
Daniel sich geschlagen gab.
Noch nie hatte Laura es in einem Raum lange ohne Musik ausgehalten.
Sobald es ihr möglich war, hatte sie immer ein Radio laufen. Und ihre erste
Maßnahme, als sie das Zepter in der Küche an sich gerissen hatte, war, ein
Radio in selbiger zu platzieren.
Es war ihr vielleicht ein wenig peinlich, aber sie kam dabei nicht von
ihrer kindlichen Angewohnheit ab, mitsingen zu müssen, wenn ein Lied gespielt
wurde. Es war ihr dabei egal, ob der Song gut war oder nicht oder ob sie den
Text komplett kannte. Sie sang mit, da ihr so die Arbeit leichter fiel. Das
hatte ihr zwar bisher nicht wenige spöttische Kommentare von Vince eingebracht,
aber sie konnte und wollte diese Angewohnheit nicht ablegen. Und bisher hatte
sich bis auf Vince keiner deswegen beschwert, obwohl man sie vermutlich durchs
ganze Haus hören konnte.
Sie war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Aufgrund der hohen
Temperaturen am Tag konnte man vor dem Abend nichts anderes als leichte Kost zu
sich nehmen. Auch dieser Haushalt bildete da keine Ausnahme. Und sie war so
dermaßen vertieft in ihre Aufgabe nebst Mitsingen, dass sie Patrick erst
bemerkte, als er unvermittelt das Wort erhob.
»Wenn man dich so sieht, könnte man glauben, dass du keinerlei Sorgen
hast.«
Erschrocken wirbelte sie zu ihm herum, lächelte aber, als sie ihn
entspannt in den Türrahmen gelehnt sah. »Du
hast mich noch nicht tanzen sehen«, meinte sie belustigt, während sie
sich die Hände abtrocknete. »Siehst du mir schon länger zu?«
Er lächelte, stieß sich vom Türrahmen ab und kam auf sie zu. Dicht vor
ihr blieb er stehen, und Laura hielt die Luft an, als er ihr eine vorwitzige
Locke hinters Ohr strich. Das vertraute Herzrasen, das sie immer in seiner
Gegenwart zu befallen schien, ließ sie auch diesmal nicht im Stich. Und es
verband sich äußerst gekonnt mit dem Flattern im Magen, als er mit einem Finger
ihr Kinn entlangfuhr.
»Eine Weile«, meinte er leise, und ein heiserer Unterton stahl sich in
seine Stimme. Und Laura schluckte, als sich seine hellblauen Augen in ihre
senkten.
Es war keine gute Idee. Das hatte sie ihm nicht nur vor einer Woche
gesagt, sie dachte es jedes Mal wieder, wenn er ihr so nahe kam. Aber dennoch
war sie nicht in der Lage, ihn davon abzuhalten. Und Patrick schien es nicht zu
interessieren, wie unmöglich es war, dass sie etwas mit ihm anfing.
Sie konnte mittlerweile mit allem umgehen. Damit, dass sie nicht
wirklich unter Menschen lebte, damit, dass zumindest die Hälfte der Anwesenden
an ihr interessiert zu sein schien, damit, dass sie um ein Vielfaches älter
wurden als Menschen. Aber was sie nicht konnte, war, damit umzugehen, dass
Patrick an ihr interessiert war.
Patrick hob sich von den übrigen Hausbewohnern ab wie ein Baum von der
Wüste. Von allen Männern, die sie kannte, musste sie zugeben. Bisher kannte sie
Männer nur als laute, aufbrausende Wesen, aber Patrick war anders. In seiner
Nähe fühlte sie sich wohl, in seiner ruhigen Zurückhaltung fand sie Sicherheit,
auch wenn er keine Chance ungenutzt ließ, um ihr zu beweisen, dass er mehr
wollte. Aber dennoch drängte er sie nicht in eine Ecke, um sein Ziel zu
erreichen. Er war nicht der Typ, der sich einfach nahm, was er wollte,
stattdessen umwarb er sie regelrecht. So etwas hatte
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