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Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi

Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi

Titel: Die Spur der Zugvoegel - Muensterlandkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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Mann in den Urlaub fahren und am Strand posieren, Kind«, hatte sie gesagt. Während Mutter die Hand hob und »Ach, lass doch die alten Geschichten«, sagte und sich ein Eis mit Eierlikör zum Nachtisch bestellte. Sie hatten auf der Terrasse des Kurhauses gesessen, einem weißen Prachtbau aus der Gründerzeit, an dem der Putz bröckelte. Julia bekam auch ein Eis. Ihre Haut prickelte noch vom Meer und von der Sonne. In der Luft hing der Geruch von Zigarre und Sonnencreme und Bockwurst. Sie war dreizehn.
    »Wieso nicht?«, fragte sie.
    Mutter verdrehte die Augen. »Es ist lange her und hat nichts mehr zu bedeuten. Wir reden nicht davon.« Ihr Gesicht sagte etwas anderes, Schmerz war darin. Sie löffelte tapfer.
    »Das war eben so«, sagte Johanna und tat es doch. Zum ersten Mal. Julia mochte Großmutters Vornamen und neckte sie manchmal damit, sie so zu rufen, was ihr gar nicht gefiel. Als sie ihr Eis verzehrt hatten und der Abendwind Kühle vom Meer heranwehte, sagte sie: »Isaaks Eltern waren dagegen und meine auch, verstehst du, Kleine?«
    »Warum?« Natürlich verstand sie nicht und dachte einen Moment an Max aus ihrer Klasse, mit dem ihre Mutter auch nicht einverstanden wäre. Aber das war wohl etwas anderes.
    »Das ging nicht. Er mit einer Goi und ich mit einem Juden, der gerade mal neunzehn war. Das ging überhaupt nicht.« Großmutter steckte eine Zigarette in ihre Zigarettenspitze und zündete sie an.
    »Du sollst nicht rauchen, Mama«, sagte Ruth.
    Großmutter sah ihre Tochter streng an. »Ich bin wohl alt genug, findest du nicht?«
    Mutter war eine Gesundheitsfanatikerin. Wenn sie gewusst hätte, dass Julia auch schon einmal … Es hatte abscheulich geschmeckt.
    »Was ist eine Goi?«
    »Eine Bezeichnung jüdischer Leute für nichtjüdische, keine ganz nette. So wie die Christen Heide sagen.« Sie stieß den Rauch aus. »Es waren wunderbare Tage hier.« Ein verträumtes Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht, verfing sich und hielt.
    »Wann habt ihr eigentlich geheiratet?« Julia wollte die ganze Geschichte. Das Lächeln im Gesicht der Großmutter starb.
    »Kurz vorher«, sagte sie, drückte die Zigarette aus und ging.
    Der Regen hatte nachgelassen. Es war schon wieder viel zu spät geworden und in der letzten Nacht hatte Julia nicht allzu viel Schlaf bekommen. Doch statt zu Bett zu gehen, legte sie sich darunter und angelte eine Kiste hervor. Das hell­grüne Papier, das sie darauf geklebt hatte, war an den Rändern abgestoßen, aber das machte nichts. Es war eine Schatzkiste. Julia holte ein Tuch und wischte den Staub ab, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und öffnete den Deckel.
    Unter dem Seidenschal der Großmutter, der immer noch ihr Parfüm trug (oder meinte sie das nur?) fand sie einen Hefter mit losen Blättern. Mutter hatte noch mehr davon, aber sie verweigerte sie Julia, behauptete, sie habe ja wohl das erste Anrecht auf die Erinnerungen an ihren Vater. Nach Johannas Tod hatten sie sich tagelang gestritten. Julia wollte die Tagebucheintragungen ihres Großvaters wenigs­tens lesen. Aber Mutter hatte ihre Lippen zu einem Strich gepresst und ihr die Hefter aus der Hand gerissen. Nur wenige Blätter hatte Julia an sich bringen können. Es waren auch ihre Erinnerungen, irgendwie.
    Sie blätterte in dem blauen Hefter, in dem sie die Seiten versteckt hatte, zwischen Kaiser Nero und Bismarck. Da war es wieder, das Gefühl, als sie sie zum ersten Mal beinahe gelesen hätte. Aber sie hatte nicht. Diesem ersten Versuch waren unzählige weitere gefolgt. Sie hatte die Sätze und Halbsätze, Wörter und Kürzel angesehen und fortgelegt. Aber immer, wenn sie die Blätter in die Hand nahm, spürte sie die Würgeschlange um ihren Hals und das Gefühl, belogen worden zu sein. Und falsch, immer am falschen Platz im Leben. Das würde sie Bayer sagen, ihn fragen, warum das so war. Der musste so was schließlich wissen. Sie legte den Hefter wieder weg. Sollte Bayer doch lesen. Julia breitete die Decke über sich, legte den Hefter auf die Brust und wartete. Auf den nächsten Tag.

8
    Der Motor stand still. Der Regen hatte aufgehört. Jenseits der Windschutzscheibe begann das Schwarz, in der Ferne winzige Lichter wie Bojen im Nichts. Leise öffnete ich die Tür, Honey rührte sich nicht. »Ich geh kurz raus«, flüsterte ich und stieg aus, spürte Gras unter den Füßen. Wie war ich hierhergekommen? Eine Lücke klaffte in der Zeit. Oder:Ich war in eine Falte, einen Abnäher, einen Umschlag geraten. Ich

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