Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Gestaltungsmöglichkeit ist es als Regierungschef eines Bundeslandes nicht weit her. Selbst in einem Bundesland mit acht Millionen Einwohnern nicht. Die Brüsseler Bürokraten reißen immer mehr Macht an sich. Die meisten Gesetze werden nicht von gewählten Politikern, sondern von Beamten gemacht. Von der vierten Gewalt, den Medien, will ich erst gar nicht sprechen. Ganz zu schweigen von der fünften Gewalt, den Banken und Großkonzernen. Jahrzehntelang hat die Politik tatenlos zugesehen, wie die Spitzenmanager immer mehr Macht an sich gerissen haben. Die Politiker fanden es schick, zu Opernbällen, Jachtausflügen und in Luxusferienvillen eingeladen zu werden. Und jetzt wissen sie nicht, wie sie die Geister, die sie riefen, wieder loswerden.“
Er nahm einen kräftigen Schluck Wein. „Wissen Sie, was mich am meisten nervt, Wagner?“
Eine rhetorische Frage, auf die keine Antwort erwartet wurde. „Immer getrieben zu sein, niemals Zeit zu haben, ein Problem von Grund auf durchzudenken, um eine angemessene Lösung zu finden. Eine Lösung, deren Haltbarkeitsdatum eine Legislaturperiode überdauert. Wie soll das ohne handwerkliche Fehler gehen, frage ich Sie. Und dann erst die Medien. Zu Beginn, wenn alles frisch ist, schreiben sie dich hoch. Sie malen dein Bild in hellen Farben, stellen dich auf einen Sockel. Und dann lassen sie dich fallen und schreiben dich in Grund und Boden.“
Wagner setzte an, seine Kollegen zu verteidigen. Mit einer Handbewegung hielt der Chef ihn davon ab. „Regieren in diesem Land ist die Quadratur des Kreises. Deutschlands fette Jahre sind vorbei, die Chinesen haben uns den Rang als Exportweltmeister abgelaufen, die Inder und Brasilianer stehen in den Startlöchern. Sie werden uns bald überholen. Die Zukunft gehört Männern wie Milner. Kriminellen Geschäftemachern, die ihr schmutziges Geld in die Hand nehmen und sich überall einkaufen. Und wir können nichts dagegen tun.“
Wagner dachte: Doch ihr könntet, wenn ihr euch nicht wegducken, sondern den Problemen ins Augen sehen und sie beherzt anpacken würdet. Aber würden die Wähler das goutieren? Vermutlich nicht.
Der Ministerpräsident drehte sich suchend um und rief: „Die Rechnung, bitte. Heute zahle ich bar.“ Der Oberkellner quittierte das Trinkgeld mit einem verkniffenen Lächeln, für ein Dankeschön reichten zehn Euro nicht. Nicht in diesem vornehmen Restaurant mit Kochmütze.
Im Dienstwagen auf der Fahrt ins Büro schob der Regierungschef eine Erklärung für den geplanten Rückzug nach. „Selbst wenn die beiden Morde niemals aufgeklärt werden, eines haben sie erreicht. Ich bin in mich gegangen, habe mich gefragt, was, wenn es nicht deine Leute, sondern dich selbst getroffen hätte? In solchen Momenten kommt man ins Grübeln, Wagner. Die Zeit, die mir noch bleibt, ist begrenzt. Nächstes Jahr werde ich sechzig.“
Er seufzte, schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Es hatte angefangen, zu regnen. Nachdenklich sagte er: „Ich frage mich, ob es gar nicht die fremde Schizophrene war, die alle suchen, sondern ein Wutbürger, der Heise und Niemann auf dem Gewissen hat.“
Oder ein Auftragsmord, dachte Wagner. Hollmanns Warnungen hatten ihn verunsichert. Das Gefühl, beobachtet zu werden, der Golf vor seiner Haustür, die merkwürdige schwarzhaarige Frau, die latente Angst, alles war wieder präsent. Sollte er den Chef einweihen?
Der war bei einem anderen Thema angelangt. „Was den Job in der Partei angeht, er wird nicht Ihr Schaden sein, weder finanziell noch was Ihre weitere Karriere angeht. Es wird Ihnen Spaß machen, für Stein zu arbeiten. Sein Charakter mag schwierig sein, aber er ist einer der Besten, die Deutschland aufzuweisen hat: kompetent, den Kopf voller guter Ideen und er hat Mut. Nichts hat dieses Land nötiger als Politiker, die ein Kämpferherz haben. Eine Kämpfernatur ist übrigens auch die neue junge Abgeordnete aus Celle. Wie heißt sie noch gleich?“
Wagner hatte den Namen präsent. „Marion Klaßen.“ Eine smarte Frau, Anfang dreißig, intelligent, attraktiv und mit Schneid. Er mochte sie, nicht nur als Politikerin, auch als Frau – oder eher in umgekehrter Reihenfolge, erst als Frau, dann als Politikerin.
„Gefällt mir, die Dame“, sagte der Ministerpräsident in seine Gedanken hinein. „Sie unterscheidet sich wohltuend von der humorlosen Riege um die Quoten-Peters herum. Ich hoffe, dass sie …“
Der Klingelton des Handys unterbrach ihn. Siegbert Meyer, der die Vertretung von
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