Die Stadt am Ende der Zeit
bis jetzt. Als sie näher kam, fiel ihm auf, wie ihr kurzes Haar im verblassenden Licht schimmerte. Ihre Augen blickten starr und durchdringend und so interessiert, dass er sich fragte, ob ihre Mer und ihr Per gleich aus der herumwuselnden Menge auftauchen und sie zurückholen oder sogleich Auskunft über ihn von den Paten verlangen würden, die er nicht mehr besaß.
Das wäre peinlich.
Jebrassy erwiderte ihren Blick ebenso verdutzt wie hoheitsvoll, bis sie sich ihm bis auf wenige Zentimeter näherte, an ihm schnupperte und lächelte. »Du bist Jebrassy, stimmt’s?«
»Wir sind uns noch nie begegnet«, erwiderte er mit dem letzten Rest von Geistesgegenwart, den er aufbringen konnte.
»Angeblich kämpfst du gerne. Kämpfen ist reine Zeitverschwendung. «
Fast wäre er über einen leeren Krug gestolpert. »Gibt’s irgendwas anderes, das sich lohnt?«, fragte er, mühsam das Gleichgewicht haltend.
»Wir haben drei Dinge miteinander gemein. Das Erste ist, dass wir herumwandern, wenn wir träumen.«
Sie hätte ihn nicht mehr schockieren können. Denn davon hatte Jebrassy nur Khren erzählt, seinem engsten Freund. Sein skeptisches Stirnrunzeln wich Bestürzung und schließlich qualvoller Verlegenheit, deshalb wandte er den Blick ab und blickte über ihre Schulter hin zu der Menschenmenge, die jetzt in schwatzenden Grüppchen die Rampen hinaufstieg und sich vom Schauplatz der Kämpfe entfernte.
»Ich bin betrunken«, murmelte er. »Kein guter Zeitpunkt für ein Gespräch.« Er wollte weggehen, doch sie hakte sich bei ihm unter und brachte ihn dazu, stehen zu bleiben.
»Du hast mich nicht ausreden lassen. Ich will weg aus der Kalpa, genau wie du.«
Angetrunken wie er war, musterte er sie voller Staunen. »Wer hat dir das alles erzählt?«
»Spielt das eine Rolle?«
Er lächelte und sah sie dabei geradezu anzüglich an. Vielleicht würde diese Situation sich doch noch als ganz nett erweisen: zwei abenteuerlustige Jugendliche, ganz allein miteinander hier draußen. Bis auf ein angewidertes Zucken der Augen veränderte sich nichts an ihrem Gesichtsausdruck.
»Und was ist das Dritte?«, fragte er verwirrt.
»Falls du’s wissen willst«, ihre Augen funkelten im letzten Zwielicht, »komm unmittelbar vor der nächsten Schlafphase zum Diurn. Ich heiße Tiadba.«
Mit diesen Worten wandte sie sich um und rannte auf die Rampen und die Brücke zu, so schnell, dass er sie in seinem betrunkenen Zustand nicht mehr einholen konnte.
7
Als es dunkel wurde, holte Ghentun seine Aufzeichnungen hervor – er bewahrte sie zusammen mit einem kleinen grünen Buch in einem Beutel auf – und schlenderte durch die tieferen Stockwerke des Blocks auf der ersten Insel. Nach wie vor unsichtbar,
bewegte er sich von Nische zu Nische und schrieb dabei mit den feinen, gefächerten Gliedern des Blütenfingers, den er aus seiner Hand sprießen lassen konnte, etwas in KlarText auf, wozu er flüssiges Silber verwendete. Während er beobachtete, wie sich die jüngste Generation der uralten Art den Weg ins Leben bahnte, empfand er Liebe und gleichzeitig Traurigkeit.
Ghentun ließ die Gedanken schweifen. Ehe er Hüter geworden war, hatte er sich gründlich mit der Stadtgeschichte befasst. Wie bei allen Geschichtswissenschaftlern in der Kalpa bedeutete dies, dass er eher wenig über sehr vieles wusste. Was er wusste, jedoch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, begann mit einer tiefdunklen Decke, die mit unzähligen Sternen übersät war: mit der Leuchtenden Pracht. Doch daran konnte er sich nur noch sehr schwach erinnern, es war kaum mehr als ein Traum.
Während der ersten hundert Milliarden Jahre expandierte der Kosmos, bis sein Gewebe dünn wurde und sich Hohlräume auftaten, in denen Dimensionen neue Bedeutungen annahmen oder aber jede Bedeutung verloren. Ganze Galaxien verzerrten sich, brannten aus oder schrumpften weg.
Der Raum selbst begann zu altern und zu zerfallen – manche glaubten: zu sterben.
Viel länger als die Diaspora gedauert und die Menschen an die Randgestade des Universums geworfen hatte, überlebte die Gattung in den letzten kompakten Inseln künstlicher Sonnen, inmitten einer großen und ständig wachsenden Leere. Das wurde zum Dauerzustand und als gegeben hingenommen, während das Frühstadium des Universums inzwischen
als krankhafte, chaotische Phase betrachtet wurde – als Anomalie.
Das Zeitalter der Dunkelheit hüllte sich in den Mantel würdevoller, gesetzter Reife, auch wenn sich überall Verfall
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